Ganz oder gar nicht (German Edition)
waren, war mir klar, was hier passiert sein musste: Ich war völlig unvorbereitet verlassen worden.
Was sollte ich tun? Nachdem ich es mehrfach ohne Erfolg auf Lolitas Handy versucht hatte, rief ich meinen besten Freund an, der in der Nähe ein Restaurant betrieb und der auch für Lolita ein Bezugspunkt gewesen war. »Hör mal, hast du irgendetwas von Lolita gehört?« »Eigentlich sollte ich’s dir ja nicht sagen, aber ein Freund von ihr aus der Schweiz ist heute mit dem Lieferwagen gekommen.« »Lieferwagen?«, fragte ich. »Ja. Sie hat es nicht mehr ausgehalten. Sie stand unter großem Druck. Sie hat sich nicht mehr wohlgefühlt, Lothar. Sie ist zurück in die Schweiz.« »Wie? Wo? Zurück?«, rief ich. »Wieso sagt sie mir nichts?« Ich stand so unter Schock, dass ich mich ins Auto setzte und die Autobahn Richtung Schweizer Grenze hinunterpreschte. Die Dämmerung setzte ein, Tränen liefen mir übers Gesicht, Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Die ganze Zeit suchte ich nach einem Lieferwagen mit Schweizer Kennzeichen. Was für ein Lieferwagen das war? Welche Farbe er hatte? Ich wusste es nicht. Ich bin einfach nur gefahren und hoffte, sie vor der Grenze noch irgendwo einzuholen. Völlig wahnsinnig, meine Aktion. Denn Lolita hatte bereits vor fünf Stunden das Haus verlassen. Kurz vor der Grenze drehte ich um. Ohnmächtig, leer, verzweifelt. Ich liebte diese Frau.
Am späteren Abend erreichte ich Lolita am Telefon. Sie kannte mich zu gut und hatte den idealen Zeitpunkt abgepasst. Sie wusste, dass ich sie nicht so einfach hätte gehen lassen. Ohne Worte einfach zu verschwinden, auf diese Art konnte ich nichts mehr ausrichten. Aber plötzlich machte nach dem Gespräch alles irgendwie Sinn: Sie war nicht mehr glücklich, sie hatte die Nase voll von München, sie vermisste ihre Wurzeln. Mir war klar: Sie würde nicht mehr zurückkommen. Überreden zwecklos.
Bei unserer Hochzeit Anfang 1994 hatten wir abgemacht, dass wir uns nach meiner aktiven Laufbahn einen Bauernhof in der Schweiz suchen würden zum Leben. Aber meine Karriere hat sich länger hingezogen als bei anderen. Das hat ihr wohl zu lange gedauert, sie wollte einfach zurück in ihre Heimat. Ich habe noch ein halbes Jahr um sie gekämpft, bin oft in die Schweiz gefahren, versuchte sie zu überreden, verlebte mit ihr und Loris Heiligabend in unserer Hütte in Crans Montana, wo sie sich mittlerweile niedergelassen hatten. Es war sinnlos. Wir hatten uns verloren.
Wäre Lolita mit ihrer Einsamkeit offener umgegangen, hätte ich es möglicherweise auch verstanden, wenn sie mal einen Tag länger in der Schweiz geblieben wäre. Aber über Probleme muss man zuerst einmal reden. Das erwarte ich von meinen Lebensgefährtinnen wie von meinen Spielern. Ich habe im Fußball gelernt, immer den gesamten Organismus eines Systems zu sehen. Die Abwehr braucht die Hilfe der Offensive. Die Offensivspieler brauchen die Unterstützung der Abwehr. Das setzt klare Kommunikation voraus. Nur so geht Erfolg.
Vernünftige Gespräche sind für mich das Allerwichtigste, um Lösungen zu finden. Dazu gehört, offen und ehrlich mit Problemen umzugehen, ohne Scheu und falsche Scham. Richtig sauer werde ich, wenn mich jemand ganz bewusst anlügt oder versucht, mich zu täuschen. Zu meiner Form der Diskussionskultur passen keine Geheimnisse. Und es gehört auch dazu, Probleme des anderen ernst zu nehmen, auch wenn man es selber nicht als Problem sieht. Was für mich eine Bagatelle ist, kann für das Gegenüber eine Katastrophe sein. Welches Recht habe ich, mich mit einem übersteigerten Ego über die Bewertung des Anderen hinwegzusetzen? Keines. Aber, bitte, ich muss von dieser anderen Einschätzung ja erst einmal erfahren! Es lohnt sich, über jede Unstimmigkeit zu reden.
Kann man gar nicht mehr miteinander sprechen, spürt man nur noch Kälte und geht sich aus dem Weg, dann hilft vielleicht eine Paartherapie. Aber in dieses Stadium sind meine Beziehungen nie gekommen.
EIN VERLORENES SPIEL IST NICHT MEHR ZU GEWINNEN
Ich bedauere sehr, dass ich meine Kinder nur in den ersten Lebensjahren habe aufwachsen sehen. Und das noch nicht einmal richtig, weil ich mit meinen Vereinen viel unterwegs war. Alle drei Geburten lagen in meiner Blütezeit als Fußballer zwischen 1986 und 1992. Alisa kam kurz vor einem Auswärtsspiel in Hannover zur Welt. Ich flog dem Team hinterher. Zum 5:0 steuerte ich sogar ein Tor bei, das ich allerdings nicht meiner Tochter widmete. Trikot hochreißen,
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