Ganz oder gar nicht (German Edition)
erhärten, soll Vogts angeblich sogar meine Hotel-Telefonrechnung kontrolliert haben. So etwas geht natürlich nicht. Genauso wenig, wie sich zuerst mit anderen Spielern über die Mannschaftsaufstellung zu unterhalten, obwohl ich der Kapitän war. Der Kapitän sollte meiner Meinung nach der erste Ansprechpartner des Trainers sein.
Man kann argumentieren, dass es hier um verletzte Egos gegangen ist und ich das hätte wegstecken können. Habe ich auch. Das sportliche Grundproblem dieses Turniers lag jedoch ganz woanders: Berti Vogts hat die Spieler an der langen Leine gelassen und wurde dabei ausgenutzt. So erlaubte er einigen Spielern, sich vor dem Vormittagstraining zwei Stunden auf dem Golfplatz herumzutreiben. Wer kann denn nach zwei Stunden Golf beim Training noch konzentriert zur Sache gehen? Dann gab es ein Riesenchaos mit den Spielerfrauen, darunter sehr dominante Charaktere. Auch unter ihnen herrschte ein Konkurrenzkampf. Einige fühlten sich benachteiligt und drängten Vogts dazu, die Ausgangssperre zu lockern. Außerdem war jede von ihnen journalistisch vernetzt, was ausgenutzt wurde, um über die Medien Druck zu entwickeln. Es war furchtbar.
Vogts machte auf mich einfach einen überforderten Eindruch und setzte auf die falschen Spieler. Ein weiterer Fehler war, die Weltmeister Rudi Völler und Andy Brehme mitgenommen zu haben, obwohl andere Spieler auf diesen Positionen gesetzt waren, nämlich Riedle und Wagner. Rudi und Andy mussten sich wie das fünfte Rad am Wagen fühlen. Entweder ich setze auf jemanden, oder ich lasse ihn zu Hause. Alles andere bringt bloß Unruhe und Gesprächsstoff für die Journalisten.
Ich hatte vor, wieder alles zu geben, um den Weltmeistertitel zu verteidigen. Aber mir fehlte die Unterstützung vom Trainer. Das hat die Mannschaft gemerkt, folglich fehlte mir auch deren Unterstützung. Und dann waren natürlich auch kantige und selbstbewusste Spielertypen dabei wie Basler, Effenberg, Sammer, Illgner oder Strunz. Das Potenzial war sicher größer als 1990, wir hätten den Pokal behalten können, aber wir hatten zu viele Leitwölfe im Team. Die Hierarchie hat einfach nicht gestimmt. Vier Jahre zuvor hatte ich Rudi Völler, Andy Brehme und Pierre Littbarski hinter mir. Plötzlich stand ich alleine auf dem Platz mit Spielern, die selbst in der Hierarchie nach oben klettern wollten. Ich merkte schnell, dass weder die Harmonie, noch der Spaß, noch der Zusammenhalt da waren wie noch 1990. Ich wartete auf einen Ruck, aber der kam nicht.
Stattdessen brachte Effenbergs Stinkefinger-Affäre im Spiel gegen Südkorea nur noch mehr Unruhe. Natürlich war das eine falsche Reaktion gewesen. Aber muss man sich von den eigenen Fans beleidigen lassen? Sollen wir uns als Spieler verhalten wie Mumien? Wieso hat der Fan recht, der Spieler aber nicht? Der ins Publikum gerichtete Mittelfinger war vor allem für den DFB-Präsidenten Egidius Braun zu viel. Er entschied, nicht Vogts. Braun gab Stefan keine Chance, sich zu verteidigen. Er wurde angezählt und ausgeknockt. Auf Deutsch: ab nach Hause! Ich hätte als Trainer um Effenberg gekämpft. Selbst bei einer Verfehlung: Halte ich nicht erst einmal zu meinem Spieler und schütze ihn? Spreche ich nicht mit ihm, lasse mir die Situation erklären und gebe ihm die Möglichkeit, seine Überreaktion zu entschuldigen?
So kam es nach vier durchwachsenen Spielen im Viertelfinale zum Aus gegen Bulgarien. Ich hatte uns noch durch einen Elfmeter in Führung gebracht. Dann der Doppelschlag der Bulgaren rund zehn Minuten vor Schluss. Wir waren in den USA nicht in der Lage, unser gesamtes Potenzial abzurufen. Eine solche Weltmeisterschaft herzuschenken wie wir 1994, so dumm kann man eigentlich gar nicht sein.
Enttäuscht flog ich nach dem Turnier über Los Angeles nach Hawaii und machte erst einmal Urlaub. Dort erfuhr ich aus den Medien, dass Berti Vogts nicht abtreten würde, sondern einen Schnitt ankündigte, der darin bestand, mich aus der Nationalmannschaft zu entfernen und mit Matthias Sammer als Kapitän einen Neuanfang zu planen. Doch zumindest in den ersten Monaten nach der WM machte er seine Drohung nicht wahr.
Vogts gehörte meiner Meinung nach damals zu den Menschen, die sich immer verfolgt und verraten fühlen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er als mein Chef ein offenes Gespräch mit mir gesucht hätte. Dann wären einige Dinge nicht passiert, und ich hätte ihm helfen können, genauso wie ich Franz Beckenbauer 1990 geholfen habe. Berti Vogts
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