Garten des Lebens
kleinen Empfangsbereich auf ihre Freundin wartete, blickte sie aus dem Fenster über den großen Hof, auf dem das Holz in langen Bahnen gestapelt war. Das Signal zur Mittagspause erklang. Die Sägen würden nun für dreißig Minuten verstummen und die Arbeiter ihre Tätigkeit unterbrechen.
Susannah beobachtete, wie die Männer aus den Gebäuden strömten und auf dem Hof zusammentrafen, um in die Pausenhalle zu gehen. Aus der Entfernung sahen sie alle irgendwie ähnlich aus – einige waren klein, andere größer, doch alle trugen die gleichen Overalls. Diese Männer waren die Väter, Ehemänner, Brüder von Menschen, die in Colville lebten, und Susannah erkannte einmal mehr die Bedeutung des Sägewerks für die Gegend.
Die Tür zu Carolyns Büro wurde geöffnet, und Susannah hörte, wie der Käufer freundlich verabschiedet wurde.
“Susannah?”, sagte Carolyn hinter ihr. “Wolltest du zu mir?”
Susannah wandte den Blick vom Fenster und sah Carolyn an. “Hast du ein paar Minuten, damit wir uns unterhalten können?”
“Ja, sicher.” Carolyn ging in ihr Büro. Susannah folgte ihr und schloss die Tür.
Carolyn hob fragend die Augenbrauen, während sie um ihren Schreibtisch ging und sich auf ihren Stuhl setzte. “Stimmt etwas nicht?”
Susannah nahm vor dem Tisch Platz und nickte. “Ich hatte heute Morgen Besuch.” Sie schluckte und fuhr fort: “Troy Nance kam, um mit mir zu reden.”
“Ich denke, das war kein Freundschaftsbesuch?”
Susannah stieß ein höhnisches Lachen aus. “Wohl kaum. Ich habe Chrissie gestern Abend mit ins
Roadside Inn
genommen, aber damit nichts erreicht. Er weiß, dass ich hinter ihm her bin, und so kam er zu mir, um mir zu sagen, dass er für fünftausend Dollar die Beziehung zu Chrissie beenden würde.”
“Er hat
was?”
, stieß Carolyn hervor.
“Das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Troy hat behauptet, dass er nur mit Chrissie zusammen ist, weil seine Mutter meinte, ich sei – ich zitiere – schon in der Highschool eine eingebildete, hochnäsige Person gewesen.”
“Was?” Carolyn klang genauso schockiert, wie Susannah es gewesen war. “Wir beide wissen, dass Jake deinetwegen mit ihr Schluss gemacht hat. Offenbar ist sie nie darüber hinweggekommen.”
Susannah nickte. Sharon war an dem Abend, als Susannah sie in der Kneipe aufgesucht hatte, besonders gemein gewesen, und sie hatte behauptet, Jake sei zu ihr zurückgekommen.
“Was wirst du tun?”
“Ich bin mir nicht sicher. Mein Gefühl rät mir, ihm das Geld zu geben, damit endlich Schluss ist.” Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass sie drauf und dran war, genau dasselbe zu tun wie ihr Vater. Ein weiterer Gedanke schoss ihr durch den Kopf, und sie hatte das Gefühl, ihr würde sich der Magen umdrehen.
“Bist du okay?”, fragte Carolyn besorgt.
Susannah schüttelte stumm den Kopf. “Was, wenn … was, wenn Jakes Vater zu meinem Vater gekommen ist und das Geld von ihm verlangt hat?”, flüsterte sie. Über diese Möglichkeit hatte sie nie nachgedacht. Vielleicht hatte Allan Presley genau das getan. Tief in ihrem Innern war sie sich sicher, dass es nicht Jakes Idee gewesen sein konnte – und dennoch: Sie hatte, ohne zu zögern, ihrem Vater die
alleinige
Schuld zugeschoben, ohne eine andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
Carolyn riss die Augen auf. “Daran habe ich noch gar nicht gedacht.”
Das Gefühl ließ sie nicht mehr los. Ihre Gedanken kreisten um diese Idee, und sie war so versunken, dass sie erst gar nicht mitbekam, was Carolyn fragte.
“Was hat Joe gesagt?”
Susannah senkte den Blick. “Ich habe es ihm nicht erzählt.”
Carolyn runzelte die Stirn. “Warum nicht?”
“Weil ich meinen Ehemann kenne – er würde sich niemals darauf einlassen. Vielleicht hat er auch recht damit, aber ich
muss
etwas tun … ich bin verzweifelt. Die Zukunft meiner Tochter steht auf dem Spiel.”
Carolyns Blick verfinsterte sich. “Glaubst du, dass es eine gute Idee ist, Joe da rauszuhalten?”
“Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.” Ihre Stimme zitterte. Dieser erbärmliche Kerl spielte mit Chrissies Zukunft – gewissenlos, ohne Bedenken und ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Seine Drohung war mehr als deutlich gewesen – er würde Chrissie einigen seiner Freunde vorstellen. Susannah konnte sich vorstellen, was er damit meinte. Seine Freunde standen am gesellschaftlichen Abgrund. Umso beunruhigender war die Aussicht, dass Chrissie mit ihnen zusammen sein
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