Gassen der Nacht
mich letztendlich schützte, wußte ich nicht. Es war zumindest einen Versuch wert.
Ray Ralston saß mir gegenüber. Er beobachtete ebenfalls den Weg der Axt. Wahrscheinlich rechnete er sich schon aus, wann sie uns erreicht hatte und zuschlug.
Plötzlich wurde sie schnell.
Das dumpfe oder mal helle Klinge begleitete nach wie vor ihren Weg. Die Schatten blieben, aber die verdammte Axt sahen wir nicht. Ray hatte sich gegen den Schrank gepreßt. Ich saß ihm gegenüber. Wir beide saßen da wie auf dem Sprung. Wir lauerten auf die Axt. Ich wünschte sie mir sogar herbei, damit der Nervenkrieg ein Ende hatte. Meiner Ansicht nach führte uns die Axt an der Nase herum. Sie nahm bewußt einen Umweg, damit sie zuschlagen konnte, ohne von uns vorher entdeckt worden zu sein.
»Da, John!«
Ray saß günstiger. Er hatte sie schräg über mir entdeckt. Ich hob den Kopf, konnte für einen Moment nichts sehen, bis ich den pendelnden Gegenstand bemerkte, der mit der Schneide nach unten an der Decke entlangstrich.
Und dann fiel er.
Ich riß mein Kreuz hoch, gleichzeitig warf ich mich zur Seite, hörte den Fluch des Kollegen und spürte den Windhauch, der dicht an mir vorbeistrich.
Es war die Schneide gewesen. Sie hätte mir noch Haare abrasieren können, so nahe war sie an meinem Schädel vorbeigejagt. Aber sie hatte nicht getroffen. Oder hatte nicht treffen wollen? Wie dem auch sei, ich drehte den Kopf nach links, denn dort befand sich der Spiegel. Sie hielt Kurs auf ihn.
Ob langsam oder schnell, ich wußte es nicht. Jedenfalls hatte sie die Fläche erreicht, als ich den Kopf drehte. Und dann geschah etwas, das vor allen Dingen Ray Ralston nicht begreifen konnte. Er hatte sicherlich mit einem lauten Splittern gerechnet, wenn die Spiegelfläche zerhackt wurde.
Nicht dergleichen geschah.
Wir hörten einen dumpfen Klang. Als hätte jemand mit der Faust gegen alte Lappen geschlagen.
»Das gibt es doch nicht!« keuchte Ray, der verwundert und fassungslos auf den Spiegel starrte. Doch, das gab es!
Die Axt steckte mit der Schneide zuerst innerhalb der Spiegelfläche. Sie war dabei nach oben gekantet, und die Fläche veränderte sich vor unseren Augen.
Wie ein Schwamm, der das Wasser aufsaugt, so machte sie sich daran, die Axt zu verschlingen. Sie schluckte das Mordinstrument, sie zerrte und saugte daran, sie fraß es förmlich auf. Es war, als würde sich dahinter etwas öffnen. Ralston sprang auf.
Ich hatte die Befürchtung, daß er einen Fehler beging. Er durfte die Axt nicht zurückholen. »Nein, Ray, nicht!«
Er warf sich trotzdem vor. Zu seinem Glück eine Sekunde zu spät, denn als er zugriff, da war die Axt in die Spiegelfläche eingetaucht, und er faßte ins Leere.
Bevor er selbst gegen die Fläche prallen konnte, warf er sich mit einer zuckenden Bewegung zurück und kippte nach hinten. Ich stützte ihn ab, damit er nicht zu Boden fallen konnte.
»O Scheiße!« keuchte er, als er in meinen Armen lag. »Das ist ja irre. Das glaubt uns keiner!«
Ich schwieg. Über seine Schulter hinweg schaute ich auf die Fläche des Spiegels, die sich leicht angegraut zeigte. Die Axt war immer noch zu sehen.
Nur war nicht zu erkennen, ob sie vorn in der Fläche steckte oder bereits dabei war, sich zurückzuziehen. Wir hatten beide das Gefühl, daß sie in die Tiefe des Spiegels hineinwanderte.
Dann wuchs aus dem Hintergrund eine Gestalt hoch. Zuerst war sie nur ein Schatten mit verschwommenen Umrissen. Aber die Konturen verdichteten sich, der Schatten wurde wesentlich klarer und mein erster Verdacht bestätigte sich leider Gottes. Dahinten stand er!
Das Monster aus dem alten Kontinent. Semerias, der erste Werwolf von Atlantis.
Ich sah seinen mächtigen Kopf, ich sah die großen hochgestellten Ohren, auch die breite Stirn und darunter die gefährlichen Augen, die so kalt und gnadenlos blicken konnten. Sein Körper schimmerte, als stünde er direkt im Mondlicht. Das mochte an dem glatten Fell liegen, das ihn als dichter Pelz umwuchs und ihn bedeckte wie ein enger Mantel. Ich hörte Ray Ralston stöhnen, als Semerias den rechten Arm anhob und mit seiner Klaue nach der Axt faßte. Einen Moment später hatte er den Griff umfangen.
Dann verschwand er mit seiner Beute. Er tauchte einfach weg, er verkleinerte sich und war nicht mehr zu sehen.
Ich hatte Ray losgelassen, der außer sich war.
»Das glaubt uns keiner, John! Verdammt noch mal, das glaubt uns kein Schwein.«
»Wichtig ist, daß wir es wissen.«
»Ja schon, aber wie geht
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