Gast im Weltraum
Straße fuhr ein blauer Wagen auf glänzenden Eisenschienen. Hinter der Glasscheibe der Stirnwand stand der Wagenlenker. Er trug eine weiße Perücke und ein reichverziertes, pfauenblaues Wams. Den Kopf bedeckte ein Dreispitz mit einer Straußenfeder, den Hals umschloß ein breiter Spitzenkragen. Die rechte Hand des Mannes umspannte fest die Kurbel des altertümlichen Vehikels. So lenkte er dieses Gefährt, das voll Menschen war, die zu beiden Seiten aus den Fenstern schauten, durch die Straße.
Ich wußte nicht recht, was Ter Haar an dem Bild so belustigte. Er lachte leise und zwinkerte mir wie ein mutwilliger Junge verständnisinnig zu. „Nun, wie gefällt es dir?“ wiederholte er seine Frage.
Ich bemühte mich, einen Fehler, einen Anachronismus zu finden; denn darum ging es doch offensichtlich dem Historiker. Ich nahm an, daß er, wie jeder Spezialist, besonders empfindlich war gegen die Ignoranz anderer in Fragen seines Fachgebietes.
„Ich glaube“, antwortete ich, „daß mit den Fenstern etwas nicht stimmt… Fenster mit solchen Kreuzen hatten doch nur die Gebäude, die religiösen Zwecken dienten, nicht wahr? Denn das Kreuz war…“
Ter Haar riß die Augen auf, lief rot an und brach in ein schallendes Lachen aus. Ich spürte, daß mir langsam die Röte ins Gesicht stieg.
,,Aber, aber… was redest du da, mein Lieber? Die Fenster sind ganz in Ordnung, daran ist nichts auszusetzen. Das Kreuz hat nichts mit einem religiösen Mythos zu tun. Kannst du denn nicht sehen? Das ist doch eine elektrische Straßenbahn. Die ganze Geschichte auf dem Bild stellt eine Szene aus dem zwanzigsten Jahrhundert dar. Der Wagenführer und die Fahrgäste aber sind gekleidet wie der Adel am Hofe der französischen Könige!“
„Da hat sich also der Künstler um hundert Jahre geirrt. Ist denn das so wichtig?“ ergriff Anna meine Partei. „Die Moden wechselten damals unablässig. Ich erinnere mich, ich habe einmal solch ein Schauspiel gesehen. Ob sie nun Wämse mit oder ohne Verzierung, eine helle öder dunkle Perücke tragen, das ist doch…“
Ter Haar hörte auf zu lachen. „Nein“, antwortete er, „lassen wir das. Es ist meine Schuld. Ich bin jedenfalls der Ansicht, daß so etwas unmöglich ist.
Ihr seid leider so unerhörte Ignoranten auf dem Gebiete der Geschichte…“ Er klopfte mit der Gabel auf den Tisch.
„Professor“, warf ich ein, „gestatte… Wer von uns kennt nicht die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung…“
„Das ist nur ein Skelett!“ unterbrach er mich. „Das ist auch alles, was ihr aus den Schulen mitbringt! Ihr zeigt nicht das geringste Interesse dafür, wie die Menschen früher lebten, wie sie arbeiteten, weiche Pläne, Träume, Hoffnungen sie hegten.“
In diesem Augenblick stand einer im Saal auf und fragte, ob jemand etwas gegen ein paar leichte Musikstücke einzuwenden hätte. Das wurde im Chor verneint, und gleich darauf erfüllten die Klänge gedämpfter Musik den Raum. Ter Haar schwieg. Der Saal leerte sich allmählich. Auch meine Tischnachbarn erhoben sich. Ich verbeugte mich und verließ mit Dr. Ruys – mit Anna, wie ich sie bereits nannte – den Speisesaal. Ich mußte einige innere Hemmungen überwinden, bevor ich es fertigbrachte, sie mit ihrem Vornamen anzureden. Sie nahm sich meiner als Führerin an und machte mich am ersten Tage mit dem Schiff und seinen Räumen vertraut.
Die Gea hat elf Stockwerke. Wir durchschritten das Schiff in seiner ganzen Länge, besuchten zuerst das kleine Observatorium am Bug und das astrophysikalische Zentralobservatorium, das fünf Stockwerke einnimmt. Dort befindet sich das stärkste Teleskop der Gea. Dann besichtigten wir die Navigationszentrale und das Stellwerk der Steuerautomaten, das aus zwei Gruppen besteht. Die erste ist bei voller Fahrt im Weltraum tätig, die zweite tritt in Aktion, wenn sich unser Raumschiff in der Nähe von Himmelskörpern bewegt.
Anschließend fuhren wir zu den Flugplätzen und den Hangars des eigenen Flugparks der Gea hinab, besuchten die Sporthalle, den Kindergarten, die Schwimmhalle, die Philharmonie, den Saal der videoplastischen Vorführungen und die großen Erholungsräume. Am Ende dieses Stockwerkes liegt das Krankenhaus. Der bewohnte Teil des Schiffes ist von der Atomkraftstation, die das ganze Heck einnimmt, durch eine mächtige Panzerwand getrennt, die gegen die Strahlung schützt. Von dort fuhren wir mit dem Aufzug wieder in die oberen Stockwerke und besichtigten elf Laboratorien. Beim
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