Gast im Weltraum
zwölften hatte ich genug. Als Anna merkte, daß meine anfängliche Begeisterung in Ermüdung umschlug, machte sie eine bekümmerte Miene, ja, sie steckte sogar den kleinen Finger in den Mund, nahm ihn aber gleich wieder heraus, als sie sah, daß ich sie beobachtete. Dann rief sie freudig: „lch weiß, wohin wir jetzt gehen! Du warst noch nicht auf dem Promenadendeck, nicht wahr?“
Ich verneinte.
Triumphierend und sichtlich erfreut, doch noch etwas gefunden zu haben, was mich zu interessieren schien, schob sie ihren Arm unter den meinen und geleitete mich durch einen breiten Korridor zu einem mattsilbernen Vorhang aus flauschigem Stoff. Wir schlugen ihn zur Seite und standen im tiefsten Dunkel.
Ich konnte nichts sehen. Es dauerte ein paar Minuten, bevor sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Wir befanden uns am Anfang einer Galerie, die so geräumig war, daß man sie, wenn sie nicht so lang gewesen wäre, als Saal hätte bezeichnen können. An der Wand schimmerten in regelmäßigen Abständen phosphoreszierende Pfeile, die die Türnischen kennzeichneten. Die Reihe dieser flimmernden Striche, die wie eine Prozession von Leuchtkäfern in der Luft zu hängen schienen, war so lang, daß sie zu einer Linie zusammenflossen. Als ich die Augen von diesen Lichtern losriß und zur anderen Seite der Galerie wandte, glaubte ich anfangs, dort wäre nichts. In der nächsten Sekunde zuckte ich zusammen. Ich begriff, wie sehr ich mich getäuscht hatte: Dort öffnete sich ein Abgrund.
Vorsichtig näherte ich mich dem sternübersäten Raum. Unwillkürlich packte mich die Angst, der feste Grund unter meinen Füßen könnte schwinden und ich würde kopfüber ins Bodenlose stürzen. Tastend streckte ich die Hand aus und ging weiter, bis ich die glatte, kalte Platte berührte, die mich vom Weltraum trennte.
Nun erkannte ich die einzelnen Sternbilder. Unter mir gabelte sich die Milchstraße. Viele Milliarden winziger Fünkchen flimmerten in ihr wie frischgefallener Schnee. An einigen Stellen fehlte das blasse Leuchten. Schwarze Abgründe taten sich auf: die Schatten dunkler, kosmischer Wolken. Ich merkte nicht gleich, daß sich mein Blick, den ich auf die Milchstraße heftete, allmählich hob und daß die Sterne sich bewegten. Plötzlich glänzte tief unter der Galerie ein helleuchtendes, silbriges Dreieck auf. Der Lichtkeil verbreiterte sich zusehends, sein Leuchten überflutete einen immer größeren Raum und überstrahlte die phosphoreszierenden Pfeile an den Türen. Schließlich standen wir beide im hellen Glanz des vollen Mondes. Er schwebte unter uns, gewölbt, mit Kratern besät, und sah aus wie eine riesige, wurmstichige, silberne Frucht. Er verdunkelte die nächsten Sterne und schwamm träge durch den Raum. Die Schatten in der Galerie wanderten von der einen Seite auf die andere, wurden schräg, glitten gespenstisch über die Wände, die Decke und flossen ineinander, als der Mond das Heck der Gea erreichte und ebenso plötzlich verschwand, wie er aufgetaucht war. An dieser Erscheinung war nichts Besonderes, da das Raumschiff um seine Längsachse rotierte, um ein künstliches Schwerefeld zu schaffen. Als der Mond untergegangen war, lag wieder tiefes Dunkel zwischen uns beiden. Anna legte plötzlich ihre kleine, warme, weiche Hand auf meinen Arm und zog mich auf die andere Seite der Galerie hinüber. „Komm mit, gleich wird die Erde aufgehen.“
Sie tauchte als blaue, dunstumgebene Kugel am Sternenhimmel auf. Drei Viertel lagen im Schatten der Nacht. Ihr Licht war milder als das des Mondes, bläulich, mit einer kaum wahrnehmbaren Beimengung von Grün. Zwischen den Wolken entdeckten wir die verschwommenen Konturen der Kontinente und der Meere. Über dem unsichtbaren, der Sonne abgewandten Nordpol funkelte ein grelleuchtender Punkt: die eigene, nördliche Atomsonne der Erde. Wieder huschten Licht und Schatten durch die Galerie, wurden länger und verschwanden, als der letzte Schein an der Decke erloschen war. Wieder umgab uns die Finsternis des endlosen Weltraumes. „Hast du sie gesehen?“ flüsterte meine Gefährtin wie ein beglücktes Kind.
Ich antwortete nicht. Dieser Anblick war mir vertraut. Wer von uns flog nicht im Laufe des Jahres einigemal in den Weltraum? Das waren allerdings stets Reisen, die nur Tage, selten Wochen dauerten. Nun auf einmal kam mir die Erde unerreichbar, unzugänglich, sonderbar fern vor…
Als das junge Mädchen neben mir das Gesicht an die kalte Tafel drückte und flüsterte:
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