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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Frank
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dauerte nicht lange, bis sie ihren nächsten Angriff starteten, um erneut zu versuchen, die Macht der Kirchen in der DDR zu brechen. Im November 1954 führte der ost 62 deutsche Staat die staatliche Jugendweihe ein. Mit dieser Zeremonie für den Eintritt der Jugendlichen ins Erwachsenenalter sollte nach dem Willen der SED die christliche Konfirmation ersetzt werden. SED -Chef Walter Ulbricht erklärte die Jugendweihe zur Pflichtveranstaltung und verkündete gleichzeitig drohend, dass Jugendweihe und Konfirmation nicht miteinander vereinbar seien.
    Mit massivem Propagandaeinsatz wurde dann das Jahr 1958 von der SED zum »Jugendweihejahr« erklärt, um das staatliche Ritual endgültig als alternativlos durchzusetzen. Wieder wurde denjenigen, die sich der staatlichen Forderung widersetzten, mit erheblichen persönlichen Nachteilen gedroht. Schüler, die nicht zur Jugendweihe gehen wollten, mussten befürchten, dass sie zur Strafe nicht zur Oberschule zugelassen wurden. Eltern von Konfirmanden wurden vor ihre Betriebsleitungen zitiert und mussten sich Diskussionen über ihre Haltung stellen. Im Ergebnis setzte sich die SED im Fall der Jugendweihe nahezu flächendeckend durch. Allerdings gelang es ihr nicht, zugleich die Konfirmation völlig zu beseitigen. Viele Jugendliche entschieden sich künftig, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen: Sie gingen zur Jugendweihe und zur Konfirmation.
    Gerhard Schmitt senior gehörte damals zu jenen evangelischen Geistlichen, die sich dem staatlichen Alleinvertretungsanspruch in Form der Jugendweihe entgegenstellten. In Predigten und Vorträgen setzte er der SED -Strategie das Postulat entgegen: »Zur Jugendweihe geht, wer Gott leugnet. Zur Konfirmation geht, wer an Gott glaubt, zu ihm betet und ihm gehören will.« Sein Neffe Joachim lernte damals, dass es möglich war, sich dem Willen der SED zu widersetzen, ohne dass das zwingend zu persönlichen Nachteilen für den Betreffenden führen musste, dass Widerstand gegen den Staat in gewissem Umfang möglich war. Später 63 als Pastor sollte er diese Form des partiellen Widerstandes gegen die SED -Diktatur geradezu kultivieren.

Schulferien in Saarbrücken
    Im Sommer 1955 machte Joachim Gauck seine erste große Reise ohne seine Eltern. Gemeinsam mit seinem Cousin Gerhard Schmitt verbrachte er in den Schulferien mehrere Wochen im Saarland, wo Gerhards Vater herstammte. Sein Vetter wohnte im Haus eines Onkels, Joachim kam bei einem Tierarzt unter, der den Wunsch geäußert hatte, ein Ferienkind aus der DDR bei sich aufzunehmen. Gerhards Verwandte gehörten dem gehobenen Bürgertum an, die sich um die beiden Jungs aus der »Ostzone« kümmerten, mit ihnen Ausflüge machten und ihnen auch mal Geld zusteckten. Einer von Gerhards Onkeln besaß eine Metzgerei mit einem riesigen Kühlraum, gefüllt mit Köstlichkeiten, die den Jungen bis dahin unbekannt waren. Großzügig schickte der Onkel sie in dieses Paradies. »Die sollen mal ordentlich essen«, befand er. Joachim und Gerhard, für die das Gefühl des Mangels präsenter war als das des Überflusses, nutzten die Gelegenheit und stopften Pasteten, Würste und Schinken in sich hinein, alles Delikatessen aus einer anderen Welt, bis ihnen schier der Bauch platzte.
    Höhepunkt des Saarland-Urlaubs der beiden Cousins war ein eintägiger Ausflug nach Paris. Das Saarland stand damals noch unter französischer Besatzung, und die französi 67 schen Besatzungsoffiziere in Saarbrücken ließen sich ihr Fleisch frisch aus Paris anliefern. Zu diesem Zweck pendelten täglich mehrere Fleischtransporter zwischen der französischen Hauptstadt und Saarbrücken hin und her. Mit einem dieser Laster fuhren Joachim und Gerhard nach Paris mit und erlebten so für einen Tag die Weltstadt an der Seine. Von dort schrieben sie Postkarten an ihre Schulfreunde und die Familien zu Hause. »Das war natürlich eine große Sache«, blickte Gerhard Schmitt zurück, »damit konnten wir richtig angeben.«

    13  Mit zwei Schulfreunden
    Die ersten großen Reisen dieser Art sind für Jugendliche zu allen Zeiten eine wichtige Horizonterweiterung und ein Meilenstein auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben. 68 Der pubertierende Joachim staunte über den augenscheinlichen Wohlstandsvorsprung des Saarlandes vor seiner Heimat Mecklenburg und saugte das Lebensgefühl der Saarländer unter der französischen Besatzung im Vergleich zu dem in der DDR unter sowjetischem Regime auf.
    Für den Oktober 1955 waren die Saarländer aufgerufen,

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