Gauck: Eine Biographie (German Edition)
darüber abzustimmen, ob sie weiterhin Frankreich angeschlossen bleiben oder Teil der Bundesrepublik werden wollten. Der Arzt, bei dem er wohnte, nahm den Jungen mit zu Parteiveranstaltungen, auf denen sich erstmals deutsche Parteien präsentieren und für den Wiederanschluss an Deutschland werben durften. Joachim Gauck war beeindruckt: »Ich war begeistert von der Offenheit und Verve, mit der die Bürger ihre Standpunkte vertraten.« Erstmals war ihm bewusst geworden, welche Rolle Parteien in einer freien Gesellschaft spielen können. Als er nach Hause zurückkam und wieder in die Schule ging, fiel es ihm noch schwerer als bisher, sich den Ritualen der sozialistischen Gesellschaft zu unterwerfen.
Rückkehr aus dem Gulag
Bald darauf saß am 19. Oktober 1955 übergangslos Joachims Vater zu Hause am Esstisch und aß Rühreier. Ein unbekannter Luxus für seine vier Kinder. Die standen um den Tisch herum und sahen mit etwas Neid zu, wie das zurückgekehrte Familienoberhaupt trotz seines ausgehungerten Zustandes bedächtig und langsam die Eierspeise verzehrte. Wegen seines angegriffenen Magens konnte der Heimkehrer nur vorsichtig Nahrung zu sich nehmen und vertrug nur kleine Portionen. Ernsthafte körperliche Schäden hatte seine Lagerzeit bei ihm nicht hinterlassen, er sollte fünfundneunzig Jahre alt werden. Seine Gewohnheit, sehr langsam 69 zu essen, behielt er allerdings bis zu seinem Lebensende bei. Außerdem die Marotte, ständig einen aus Holz geschnitzten Löffel in seiner Tasche bei sich zu tragen. Er habe damit im Lager vom Spülwasser für das Geschirr die Fettaugen abgeschöpft, erklärte er seinem Neffen Gerhard Schmitt. Das habe ihm das Leben gerettet.
Die Wiederbegegnung mit seiner Frau und seinen Kindern nach fast vier Jahren war natürlich ein bewegender Moment. »Diese Sekunden nach der ersten Begegnung nach Jahren nagten sehr lange an mir«, erzählte der alte Gauck Jahrzehnte später. Seine Kinder konnten nicht übersehen, wie abgemagert und ausgezehrt ihr Vater war. »Er war fast nicht zu erkennen«, erinnerte sich Marianne, und die achtjährige Sabine wunderte sich, »dass er keine Zähne und keine Haare hatte«. Allen fiel auf, dass Gauck senior sich verändert hatte, nicht nur äußerlich, sondern auch in seinem Wesen. Sein Neffe Gerhard Schmitt bemerkte: »Er war wortkarg und wirkte fremd. Er hielt sich sehr zurück und guckte mehr in sich rein als raus.« Siebzehn Jahre zuvor hatte Wilhelm Joachim Gauck abgelehnt, kirchlich zu heiraten. Als er jetzt aus dem Gulag zurückkehrte, war er nach der Wahrnehmung von Jörn-Michael Schmitt »ein frommer Mann« geworden. Joachim Gauck bestätigte diese Veränderung an seinem Vater: »Neu für uns war, dass er öfter in die Rostocker Klosterkirche ging.«
Dass Wilhelm Joachim überhaupt hatte heimkehren dürfen, verdankte er der Moskau-Reise von Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1955. In deren Ergebnis ließ die sowjetische Führung die letzten zehntausend deutschen Kriegsgefangenen sowie zwanzigtausend sonstige in der Sowjetunion internierte Deutsche frei, unter ihnen auch Gauck senior. Der jetzt neunundvierzig Jahre alte Mann, hatte von seinen fünfzehn letzten Lebensjahren zehn im 70 Krieg oder in Gefangenschaft verbracht. Ein verlorenes Jahrzehnt in der Mitte des Lebens. Eine Dekade, in der er von seiner Frau getrennt gewesen war und seine kleinen Kinder nicht aufwachsen sah. Stattdessen waren die Grausamkeit des Krieges und die Brutalität von Gefangenenlagern sein Leben gewesen.
Man muss kein Psychologe sein, um zu ahnen, dass das Erlebte für seine Seele nicht folgenlos geblieben sein konnte. Gauck senior verbarg seine Beschädigungen nach seiner Rückkehr hinter bissiger Ironie und Sarkasmus. Zeitgenossen beschrieben ihn als »kernige« und »eindrucksvolle Figur«, zugleich auch als einen sehr belesenen und gebildeten Mann. Dem DDR -Regime und seinen Repräsentanten stand der alte Gauck in offener Ablehnung gegenüber, und er gab sich keine Mühe, das zu verbergen. »Mit Organisationen wie der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft brauchte man meinem Vater nicht zu kommen«, berichtete Marianne Gauck, »das war Fakt, das wurde nicht diskutiert. Wenn Genossen ihn auf so etwas ansprachen, konnte er regelrecht aufsässig werden.« Tatsächlich sprach Gauck senior generell ohne Umschweife aus, was er über jemanden dachte. Das ging so weit, dass er einmal unverblümt zu einem Besucher sagte: »Sie sehen aus, als ob Sie Ihre Frau schlagen.«
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