Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Joachim Gauck wollte diese Interpretation der damaligen Situation nicht teilen. »Ich kenne keinen Fall, dass unsere Kirchenleitung Ausreiseanträge von Kindern oder Verwandten von Pastoren negativ kommentiert hätte. Im Übrigen hatte ich keine Karriereabsichten in der Kirche.«
Der Zwiespalt, in den sich Gauck durch seine Söhne gebracht sah, trat in seinen Stasiakten deutlich zutage. Dass er sich mit öffentlich geäußerter Kritik gegenüber dem Staat 162 zurückhielt, war in für ihn kritischen Situationen ja ein Ritual. Doch Anfang 1985 kroch Joachim Gauck regelrecht zu Kreuze. In dieser Form findet sich kein zweiter Vorgang in seiner Stasiakte. Der Referent für Kirchenfragen beim Rat der Stadt Rostock, Manfred Manteuffel, notierte nach einem Gespräch mit Gauck am 8. Januar 1985: »Ich habe den Eindruck, dass das Problem ›Ausreiseanträge‹ seiner Kinder Gauck sehr belastet.« Der hatte zuvor resignierend erklärt: »Ich bin etwas enttäuscht vom Verhalten meiner Söhne, habe aber keinen direkten Einfluss. […] Ich habe viele Gespräche geführt – was soll man noch mehr machen?« Ungewöhnlich defensiv biederte sich Gauck beim Kirchenreferenten geradezu an. Dass man ihn als eingefleischten »Antisowjetist« abstemple, sei eine falsche Einschätzung seiner Person, versicherte er Manteuffel, »ich stehe zu diesem Staat, auch wenn ich hier und da Unklarheiten habe«. Gauck verstieg sich sogar zu der Aussage: »Viele junge Männer, die den Wehrdienst verweigern wollten, habe ich nachweislich überzeugt, dass Soldat sein mit oder ohne Waffe in dieser Zeit das einzig richtige ist. […] Mein Fehler ist, dass ich mich oft spontan – und dann unüberlegt – äußere.« Mit diesem Vorgang in seiner Stasi-Akte konfrontiert, reagierte Gauck empört: »Ich habe zu keiner Zeit das Soldatsein mit der Waffe für richtig gehalten. Bei Manteuffels Berichten herrscht generell die Tendenz, gegenüber seiner Obrigkeit und dem MfS Bewegungsspielraum zu beschreiben – und damit auch seine eigentliche Rolle wichtiger zu machen.«
Katz und Maus
Das Jahr 1985 wurde zu einem merkwürdigen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Gauck und der Stasi. Mal, wie gegenüber dem Kirchenreferenten Manfred Manteuffel, trat 163 Gauck selbstkritisch und zerknirscht auf, dann wieder äußerte er sich öffentlich so, als wolle er ein Vorgehen des Staates gegen ihn geradezu provozieren. Über einen »Friedensgottesdienst« von Gauck im April notierte ein IM : »Er verglich die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR mit dem faschistischen Deutschland und behauptete, dass den Bürgern damals wie heute eine Ideologie vorgeschrieben würde. […] Wie unter Hitler würden auch heute bestimmte staatliche Organe willkürlich herrschen, ohne dafür rechenschaftspflichtig zu sein. In der DDR wie im 3. Reich würde von den Bürgern gefordert, stolz auf ihren Staat zu sein. Er, Gauck, könne keinen Grund nennen, weshalb er stolz sein sollte.« Das war hart an der Grenze. Frustriert notierte ein Mitarbeiter der DDR -Geheimpolizei zu dem Vorfall: »Aus politischen Erwägungen ist die Inhaftierung eines Pastors in der gegenwärtigen Klassenkampfsituation […] nicht dienlich.« Gauck meinte dazu später: »Ich habe mir ausgerechnet, wie weit ich gehen kann. Parolen schmieren, Transparente raushängen – das wäre dumm gewesen, dann hätten sie mich verhaften müssen.« Peter-Michael Diestel, der letzte Innenminister der DDR , der mit Gauck später eine jahrelange Feindschaft pflegen sollte, sagte es so: »Mit dem Gegner zu spielen war sein Ding. Er war doch dreimal klüger als die anderen.«
Im Juli 1985 ging das Spiel zwischen dem Goliath Stasi und dem David Gauck in die nächste Runde. Der für den Pastor zuständige MfS -Hauptmann Portwich versuchte eine Frau aus Gaucks Kirchengemeinde als IM anzuwerben. Nach mehreren vorbereitenden Kontakten suchte Portwich die Frau verabredungsgemäß in ihrer Wohnung auf. Zu seiner Überraschung saß Gauck mit am Frühstückstisch und grüßte freundlich, als Frau Beyer dem Mann vom MfS die Wohnungstür öffnete. Der brach seinen Anwerbever 164 such augenblicklich ab, als er den Pastor erblickte. Die Konspiration war verletzt, die Frau taugte nicht mehr als IM . In dem sich anschließenden Disput zog Gauck über Portwichs Arbeitgeber her. Das MfS betreibe »Wühlarbeit«, warf er dem Stasihauptmann an den Kopf. Alle hätten Angst vor dem MfS , das friedliche Bürger unter Druck setzen würde. Portwich kam
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