GB84: Roman (German Edition)
gegeben. Keine Risse in den Kohlerevieren.
Noch immer warten die Menschen, warten auf Ergebnisse –
Die Menschen haben es nicht gern, warten zu müssen –
Wichtige Menschen. Ungeduldige Menschen
.
Der Jude geht ins Hobart House, und die Türen in den Fluren fallen vor seiner Nase zu. Das ist ihm egal. Er hat schon genug andere Sorgen –
»Nein, nein, nein«, schimpft der Jude. »Das Ganze weiter nach rechts. Nach rechts.«
Neil hat Nadeln zwischen den Lippen und eine Landkarte in Händen. Er hält die Karte an die Wand gegenüber vom Schreibtisch des Juden im Hobart House. Er verrenkt sich fast den Hals, als er den Juden anschauen will –
Wieder schüttelt der den Kopf. »Nach rechts, Neil«, wiederholt er. Neil schiebt die Landkarte weiter nach rechts und dreht sich um. Der Jude nickt und sagt: »Pinnen Sie sie an, Neil. Pinnen Sie sie an.« Neil nimmt die Nadeln aus dem Mund und pinnt die vier Ecken fest. Dann macht er einen Schritt zurück. Die riesige Karte mit den Kohlerevieren Großbritanniens hängt schief.
Dem Juden ist das egal. Er wühlt schon wieder in den Keksdosen und sucht Nadeln heraus –
Rot. Gelb. Blau –
Kugeln für seine Schlachten. Kräfte für seine Felder. Die Schlachtfelder des Nordens –
Die Zahlen, die er braucht, um den Krieg zu gewinnen –
Den Krieg der Zahlen
.
Der Jude hat sich von der Arbeit des NCB-Direktors für den Bereich North Derbyshire inspirieren lassen. Der Jude hat Mr. Moses kennengelernt. Mr. Moses hat sich im Juli die Zeche Shirebrook vorgenommen –
Dort sind nun fast tausend Mann wieder an die Arbeit gegangen –
Der Jude sieht keinen Grund, warum das nicht auch auf der ganzen Wandkarte wiederholt werden könnte.
Er hat seine Dosen und Nadeln, seine Ansprüche und seine Sekretärin –
Chloe schlägt die Beine übereinander und schreibt mit –
Der Jude wünscht eine Kopie der gesamten Lohnliste des NCB. Der Jude will, dass alle Namen der Bergmänner mit den Polizei- und Gerichtsakten abgeglichen werden –
Der Jude sucht Schwächen –
Männer, die die Zeche gewechselt haben, Männer, die in einiger Entfernung von ihren Zechen wohnen –
Verheiratete. Geschiedene. Männer mit Kindern. Männer, die keine haben können –
Männer mit Hypotheken, Schulden –
Männer, die jede Menge Überstunden gemacht haben. Männer, die immer viel Geld hatten –
Männer mit Schwächen –
Alter. Sex. Diebstahl. Wettsucht. Geld
.
Der Jude will Listen –
Gebiet für Gebiet. Zeche für Zeche. Schicht für Schicht. Bergmann für Bergmann –
Streikposten für Streikposten –
Dorf für Dorf. Straße für Straße. Haus für Haus. Mann für Mann –
Streikbrecher für Streikbrecher
.
Der Jude will sehen, wie sich die Nadelfarben ändern –
Von Rot zu Gelb. Von Gelb zu Blau –
Zurück ans Werk mit Mr. Sweet
–
»Die Kantinenkatze, die aus der Kälte hereinkommt«, ruft der Jude. »Die zählt auch mit.«
Paul stand in der Tür und sah Terry Winters von seinem Büro aus den Flur entlang zum Fahrstuhl gehen. Jedes Mal, wenn Terry seinen Schreibtisch verließ, stand Paul da und beobachtete, wie er zum Fahrstuhl ging. Beim ersten Mal war Terry stehen geblieben und hatte gefragt: »Kann ich dir helfen?«
»Du hast schon genug getan, Genosse«, hatte Paul erwidert. »Du hast schon genug getan.«
Beim zweiten Mal hatte Terry gefragt: »Stimmt was nicht?«
»Nur du, Genosse«, hatte Paul geantwortet. »Nur du.«
Beim dritten Mal war Terry nicht mehr stehen geblieben, sondern einfach vorbeigegangen –
Paul gab ihm die Schuld für alles –
Den Zusammenbruch der Gespräche. Den Zustand ihrer Finanzen. Den Verlauf der Gerichtsprozesse
–
Die drei aus Derbyshire hatten ihr Recht auf Arbeit eingeklagt. Die NUM Derbyshire musste aufgrund einer einstweiligen Verfügung dafür garantieren, dass den drei Männern aus Bolsover, Markham und Shirebrook keine Disziplinaranhörung drohte –
Paul gab Terry die Schuld an allem.
Doch Paul war seine geringste Sorge. Terry wusste, dass ihm die Zeit knapp wurde –
Auch Schusswaffen wurden knapp, und es gab schon eine Schlange von Leuten, die den Kopf des Präsidenten forderten –
Jeden Tag gab es neue Morddrohungen. Heute war eine in der Redaktion der
Independent News
eingegangen –
Der Präsident würde heute Abend in Stoke erschossen werden
.
Die Special Branch hatte gefordert, dass der Präsident eine Eskorte ihrer besten Männer akzeptiere. Der Präsident hatte sie nur ausgelacht. »Die Besten sind schon
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