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GB84: Roman (German Edition)

GB84: Roman (German Edition)

Titel: GB84: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Peace
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wartet.
    Fünf Minuten später taucht der Jude wieder auf, in Fliegerjacke und Chinos. Er reicht Neil Koffer und Panamahut, setzt sich seine Fliegersonnenbrille auf und streicht sich den Schnurrbart glatt. Er reckt sich und atmet tief durch die Nase ein. Dann tippt er Neil auf die Schulter und fragt: »Ungefähre Ankunftszeit, Neil?«
    Neil Fontaine schaut auf die Uhr, klopft darauf und antwortet: »In weniger als einer Stunde, Sir.«
    »Na, dann mal los, Neil«, sagt der Jude. »Unsere Leute warten.«
    »Gewiss, Sir.«
    Der Jude steigt hinten ein, Neil schließt die Tür. Sie fahren weiter nach Oxton –
    The Green Dragon
.
    Neil hält dem Juden die Wagentür auf. Sie gehen die Treppe zum ersten Stock hinauf. An einem Tisch in der Ecke sitzen zwei Männer. Einer von ihnen hat vorzeitig ergrautes Haar. Er trägt eine Sonnenbrille. Beide Männer stehen auf, als sich der Jude nähert. Der Mann von der
Mail
macht sie miteinander bekannt: »Stephen Sweet, Grey Fox.«
    Der Jude gibt dem Mann mit den grauen Haaren die Hand und fragt: »Soll ich Sie Mr. Fox oder Grey nennen?«
    Grey Fox zuckt mit den Schultern. »Was Ihnen lieber ist. Ist nur ein …«
    Der Jude hält eine Hand hoch. »Wie wär’s ganz einfach mit
Held

    Grey Fox wird rot. Er nimmt die Sonnenbrille ab.
    Der Jude sagt ihm, er solle sich setzen. »Sie sind der mutigste Mann, der mir je begegnet ist.«
    Der Mann von der
Mail
nickt. »Der Mutigste in ganz Großbritannien.«
    Grey Fox schüttelt den Kopf. »Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mann, der …«
    Der Jude drückt ihm die Hand. »Sie sind weit davon entfernt, ganz gewöhnlich zu sein, Sir. Sie sind ein ganz außergewöhnlicher Mann. Bitte, ich möchte die ganze Geschichte hören, Grey Fox. Die Geschichte des mutigsten Mannes in Großbritannien …«
    Der Jude und Grey Fox setzen sich nebeneinander an den Ecktisch in der oberen Bar des Green Dragon in Nottinghamshire.
    Grey Fox trinkt nichts. Der Jude schon –
    »Gegen den Kater«, erklärt er. »Und nun, erzählen Sie mir alles, bitte …«
    »Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte«, fängt Grey Fox an. »Die Gewerkschaftsoberen waren im Streik. Man konnte nicht auf Nachtschicht gehen, weil die dann das Haus mit Steinen bewarfen oder noch Schlimmeres. Richardson – unser Gewerkschaftsmann – kam zum Welfare Club und beschimpfte uns als Streikbrecher. Er forderte uns auf, in den Streik einzutreten. Ich dachte nur, wie sehr ist diese Welt auf den Hund gekommen, wenn der Mann, der unser gewählter Vertreter ist, in den Welfare Club kommt und uns, den Männern, die sein Gehalt zahlen, sagt, wir seien Scabs? Ich war tief getroffen, Mr. Sweet. Getroffen und verängstigt, weil niemand wusste, an wen er sich wenden sollte. Ich dachte nur, es müsste doch Hunderte wie mich geben …«
    Der Jude beugt sich vor. Er hängt Grey Fox an den Lippen –
    »Die einzelnen Gewerkschaftsbezirke waren wie Inseln, jede isoliert von den anderen. Manche Zechen waren regelrecht abgeschnitten. Es gab Gerüchte, das war alles, was wir zu hören bekamen. Aber ich wollte die Menschen zusammenbringen. Am 1. Mai hatte ich in Mansfield die Gelegenheit, etwas zu bewegen. Ich habe den Leuten meinen Namen und meine Telefonnummer auf Zetteln gegeben. In der Nacht fing dann das Telefon an zu klingeln, und seitdem hat es nicht wieder aufgehört …«
    Der Jude nickt mit Tränen in den Augen –
    »Dann habe ich gesagt, was ich immer gesagt habe und auch weiter sage: Wenn fünfzig Prozent streiken und der Streik offiziell ist, dann streikt Grey Fox mit.«
    Er hält inne.
    Der Jude reibt sich die Augen trocken und wischt sich die Tränen von den Wangen.
    Neil starrt Grey Fox an –
    Der starrt zurück.
    Neil lächelt –
    Carl Baker, 35, Schmied, Vater von zwei Kindern, Zeche Bevercotes. Carl Baker, ehemaliger kleiner Arbeiter, nun wohnhaft in 16 Trent Street, Retford

    Carl Baker lächelt zurück, denn er ist ein freundlicher Mann –
    Ein sehr freundlicher Mann, aber Carl hat schon erste Bedenken. Seine Zweifel werden zu Bedauern werden, Bedauern bringt Schuldgefühle, Schuld führt zu Verbitterung –
    Und dann wird Carl Baker kein freundlicher Mann mehr sein –
    »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagt er. »Ich müsste mal …«
    »Unten, glaub ich«, meint der Mann von der
Mail
.
    »Soll Neil Sie begleiten?« fragt der Jude.
    Carl Baker sieht Neil an und schüttelt den Kopf. »Nein, danke.«
    Der Jude lächelt und nickt. Er steht auf und lässt Carl Baker vorbei.

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