Gebieterin der Finsternis
Ihre Notizen führten genauestens auf, wie sie sich von Glasgow bis hierher in die Highlands bewegt und wie viel Elfenessenz sie aufgenommen hatte – Namen, Daten, geschätzte Bevölkerungszahlen. Die Werte der Lebensessenz, die sie gestohlen hatte, waren besonders fatal. Sie hatte sie nämlich in Dämonenschrift angegeben, weil Dämonen die einzigen Wesen waren, die derlei objektiv bewerteten.
Schuld war ihre verfluchte Besessenheit, alles immer klar und strukturiert anzugehen! Blöd, blöd, blöd! Sie hätte diese Notizen nie aufbewahren dürfen.
Sein vielsagendes Schweigen hielt an, während er jedes Wort und jede Zahl las, die sie notiert hatte. Unterdessen wagte Artemis kaum zu atmen und wurde zusehends nervöser. Sieversuchte, sich auf einen Zauber zu konzentrieren, mit dem sie ihn überlisten könnte. Weil er wegen der Elfen so wütend war, musste er eine lebensmagische Kreatur sein. Würde ein Lichtoder ein Finsterniszauber besser wirken? Sollte sie hier im Wagen etwas versuchen oder lieber warten, bis sie im Freien waren?
Sie war so mit Nachdenken beschäftigt, dass sie zusammenzuckte, als er wieder sprach.
»Erklär mir, was das soll.«
Sie sah ihn an. »Nein.«
Seine Wangenmuskeln zuckten, und seine Augen wechselten zu einem dunklen Waldgrün. Die Wut war beinahe mit Händen zu greifen.
Artemis drehte sich halb zu ihm, den Rücken gegen die Beifahrertür gepresst, und schaltete ganz und gar auf Verteidigung.
Atme
, ermahnte sie sich.
Atme!
Ein. Aus. Ein. Aus. Gleichgewicht. Das war der Schlüssel. War es immer.
Zu schade, dass dieser Fremde ihre Welt auf den Kopf stellte.
Langsam und sorgfältig legte er ihre Karte wieder zusammen. Und dann riss er sie mit einer einzigen Bewegung entzwei.
Artemis fuhr auf.
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, legte er beide Kartenhälften übereinander und zerriss sie abermals. Danach schnippte er einmal mit den Fingern, und das Papier fing Feuer. In seinen Händen verbrannte die Karte, bis nur noch ein Aschenhäufchen übrig war. Und er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Vier Monate mörderischer Detektivarbeit waren von einer Sekunde zur anderen dahin.
Artemis wurde sehr still. Sie wollte schreien, ihm die Fäuste ins Gesicht hämmern, und seinem Gesichtsausdruck nach wusste er es. Also tat sie das Einzige, was ihr übrigblieb. Sie schluckte auch noch ihren Fluch herunter.
»Also. Seit der Sommersonnenwende stiehlst du Lebensessenz. Und das in insgesamt siebenundzwanzig Elfendörfern.«
»Sechsundzwanzig«, korrigierte sie matt. »Das letzte zählt nicht.«
»Dämonenhure?«
Sie kochte vor Wut, dabei war es eine naheliegende Vermutung. Dämonen labten sich an Lebensessenz. Deshalb unternahmen ihre menschlichen Sklaven einiges, um sie ihnen zu beschaffen.
»Nein«, sagte sie.
Er betrachtete sie nachdenklich, dann nickte er. »Ich denke, das glaube ich dir. Deiner Aura fehlt der kranke Grauschleier. Also, keine Hure, aber ein Rätsel, sogar für mich. Du bist, wenn ich richtig vermute, nicht ganz menschlich.«
»Ich weiß nicht, was das mit …«
Sie brach ab, als seine Fingerspitzen über ihre Wange strichen.
Er war immer noch wütend, doch seine Berührung war unglaublich sanft. Der Kontrast machte sie zittern. Er strich ihr über den Wangenknochen und das Kinn, von dort zu ihrem Hals. Wo er sie berührte, kribbelte ihre Haut, und sie spürte noch eine schwache erotische Note, obgleich der Rückstoß ihres Zaubers inzwischen so gut wie verklungen war. Etwas Derartiges hatte sie noch nie gefühlt. Doch nach einem kurzen Moment begriff sie, was er tat.
Er las ihre Magie.
Prompt wich sie zurück. Nur hockte sie leider schon an derBeifahrertür, also konnte sie nicht viel weiter weg. Und er bewegte sich mit ihr, legte seine große Hand in ihren Nacken, so dass er ihren Hinterkopf abpolsterte, damit er nicht gegen die harte Scheibe stieß. Gleichzeitig streifte sein Daumen fest und warm ihre Lippen.
Sie sah ihn verwundert an. Er war viel zu nahe, und er … sie konnte ihn fühlen,
in sich
, wie er die Ränder ihrer Seele streifte. Das war viel zu vertraut. Bei weitem zu vertraut.
»Hör auf«, flehte sie ihn mit bebender Stimme an.
»Schhh, Süße.«
Seine grünen Augen blickten sie an, oder, besser gesagt, geradewegs in sie hinein. Zweifellos sah er Dinge, die sie um keinen Preis enthüllen wollte. Sie versuchte, sich ganz klein zu machen, was er allerdings verhinderte. Und zwar einzig mit einem sanften Fingerstrich über ihre Wange. Es kam ihr
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