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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
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Gestalt ganz auf Henry Thode zurückgehen. Und offen gesagt: Der Besuch dieser Bibliothek lohnt den kurzen Spaziergang von Gardones Ortszentrum hier herauf niemals die Besichtigung des weltberühmten Vittoriale und all seiner pathetisch-kitschigen Versatzstücke, in und mit denen D’Annunzios tragikomischer Größenwahn sich hier zu inszenieren trachtete.
    »An allem ist Hütchen schuld!« heißt eine weitere der Opern, die Siegfried Wagner hier in der Villa Cargnacco konzipiert hat, und die sich, nebenbei gesagt, heute als seine überlebensfähigste erweist, da sie ohne die erotisch reichlich verquaste Märchensymbolik seiner anderen Bühnenwerke auskommt. Und Gabriele D’Annunzios eigentlicher bürgerlicher Name lautete Rapagnetta, zu deutsch: kleine Rübe oder Rübchen. Hätte der Komponist geahnt, was der Villa Cargnacco und ihrem Park ein paar Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt in Gardone blühen sollte – wir sind sicher, er hätte den Titel seiner Oper vermutlich um eine winzige Nuance geändert: »An allem war Rübchen schuld!«
 

9. Hanglage Seeblick oder
Die Angst der Deutschen vor
den Deutschen
     
     
     
    Die Tradition des Gardasees als Objekt der Begierde für Zweitwohnsitzerbauer reicht sehr viel weiter zurück als zum Einzelreisenden Goethe oder zu Louis Wimmer und den deutschsprachigen Pionieren des modernen Tourismus. Wer immer ans südliche Seeufer und zumal nach Sirmione kommt, wird – ob er will oder nicht – mit der Nase auf die Spuren des altrömischen Dichters und Satirikers Catull gestoßen. Nicht nur kein Fremdenverkehrsprospekt, auch kaum eine bessere Speisekarte kommt ohne die Wiedergabe zumindest eines Zitats aus Catulls poetischer Liebeserklärung an den See in italienischer, deutscher oder gar, der Authentizität wegen, in lateinischer Sprache aus: Paene insularum, Sirmio, insularumque / ocelle, quascumque in liquentibus stagnis / manque vasto fert uterque Neptunus  / quam te libenter quamque laetus inviso … – also schön, dann eben doch auf deutsch, in Eduard Mörikes Übersetzung: »O Sirmio, du Perlchen alles dessen, was Neptun in Landseen oder großen Meeren hegt, Halbinseln oder Inseln – froh, wie herzlich froh besuch’ ich dich!«
    Indessen, so verführerisch sich das auch anhört, beim Thema »Catull und der Gardasee« ist Vorsicht geboten. Zumal die selbst an Winterwochenenden von Touristenscharen überlaufenen »Grotten des Catull« zum einen keine Grotten sind, sondern die wiederausgegrabenen Ruinen eines ausgedehnten römischen Baukomplexes aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert; und die wurden zum anderen ganz bestimmt nicht von Catull oder in dessen Auftrag erbaut – schon deswegen nicht, weil der Dichter nachgewiesenermaßen bereits 54 vor Christus starb, in Rom übrigens und nicht etwa am Gardasee.
    Es läßt sich nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Catull überhaupt jemals ein Haus am Gardasee besaß. Fest steht lediglich: Sein Vater hatte sich, wie viele römische Patrizier, dort eine Sommerresidenz bauen lassen. Die stand zwar nahe bei Sirmione, aber nicht auf der kleinen, wie ein leicht gekrümmter Pfeil in den See ragenden Halbinsel selbst, auf dessen Schaft Sirmiones Altstadt liegt und an dessen äußerster Spitze sich die sogenannten Grotten des Catull heute den Besucherströmen präsentieren. Welchem Zweck diese zum Teil durchaus imposanten Mauerreste einst dienten, ist bis heute unklar. Die Erklärungsversuche reichen von Gästehaus für Süd-Nord-Reisende über Kaiserpalast bis zu Militärlager; am ehesten neigen die Experten inzwischen der Meinung zu, es handle sich um die Überreste einer großzügig ausgebauten Thermalanlage.
    Die Unschlüssigkeit der Archäologen hat auch für uns Laien praktische Folgen. Die bewährte Regel »Man sieht nur, was man weiß« stimmt schließlich auch in ihrer Umkehrung: Was man nicht weiß, sieht man auch nicht. Ganz besonders gilt das für archäologische Objekte, wo allein das Wissen jene Phantasie futtert und fördert, mit der Mauerreste im Kopf des Betrachters zu eindrucksvollen architektonischen Denkmälern werden. Was aber soll die Phantasie mit Steinen anfangen, die vielleicht einmal Teil eines römischen Luxusbads waren, vielleicht aber auch zu einer Kaserne oder einer Palastwand gehörten? Und so erblickt man in Sirmione, hat man sich endlich bis zu seiner vielgepriesenen Hauptsehenswürdigkeit vorgekämpft, bei bestem Willen nichts als das Fragment eines Torbogens und ein paar eher verloren

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