Gebrauchsanweisung für Schwaben
lockt, dräut auch die Tiefe. Die rührenden Bemühungen der Stadtverwaltung, Stuttgart nach holländischem Muster in ein Radlerparadies zu verwandeln, scheitern an dem überall zu beobachtenden, atemlosen Hängen und Würgen der Pedalöre. Auch Fußgänger brauchen stramme Muskeln, wenn sie all die rund 400 Treppen, hierzulande verharmlosend »Stäffele« genannt, überwinden wollen. Wobei das »Nauf«, also der Weg nach oben, immer noch angenehmer ist als das »Nonder«, das Hinunter. Denn dabei holt man sich etwas, was die schwäbischen Stäffelesrutscher einen »Knieschnäpperer« nennen – zwei zitternde Knie inklusive massivem Muskelkater. Jedenfalls ist es kein Wunder, daß der Stuttgarter Thomas Dold den Wolkenkratzer-Marathon im New Yorker Empire State Building locker gewonnen hat: 1576 Stufen in zehn Minuten und 19 Sekunden, das schafft nur einer von hier. Schließlich kennt der Mann die Disziplin von Kindesbeinen an. Kürzlich ist er auch den heimischen Fernsehturm in Rekordzeit »hinaufgefußelt«, also gerannt – 800 Stufen in vier Minuten und 44 Sekunden, ohne Testosteronspritze.
Man sieht, die Berg- und Talstadt Stuttgart hält fit, auch wenn sie der Mitteleuropäischen Zeit aufgrund ihrer geographischen Lage (9 Grad, 10 Minuten östlicher Länge von Greenwich) um 23 Minuten hinterherhinkt.
Dreierlei Wetter, mindestens
Noch eine Exklusivität verdankt die Stadt ihrer abwechslungsreichen Lage: ihr Wetter, das meist im Plural vorkommt, weil es, besonders im Winter, dreigeteilt ist. So wundert sich kein hiesiger Autofahrer, wenn er drunten beim Stadtteil Hofen auf 207 Meter Neckartalniveau im Frühling startet, bei der Fahrt durch die 245 Meter hoch gelegene Innenstadt in diesiges Gewölk gerät und droben, bei der Bernhartshöhe am Autobahnkreuz Stuttgart (549 Meter), plötzlich in einem Schneegestöber steckt. Im Sommer aber heizt sich der Stadtkessel gern auf – dann wird es »dämpfig«, wie die Stuttgarter untertreibend sagen.
So mancher Gast hatte mit diesem Klima seine Probleme. Zum Beispiel der Dichter Nikolaus Lenau. Er beschwerte sich 1840 bitter: »Das Stuttgarter Klima ist abscheulich, ich liege in diesem Tal wie auf einer Bratpfanne […] die Luft ist gar zu lax und erbärmlich.« Auf seinen abendlichen Spaziergängen habe sich die heiße Luft »so schmierig um den Leib« gelegt »wie kochendes Unschlitt, daß ich dem Stuttgarter Himmel, dem blauen Aas, ins Gesicht spuckte vor Galle«. Die Luft war aber nicht der Grund, weshalb Lenau wenig später, geistig verwirrt, in die Heilanstalt Winnenthal gebracht werden mußte. Auch der Brauch, dem Wettergott bei allzu ungestümen Turbulenzen »ein paar alte Weiber« zu opfern, ist seit ein paar Jahren abgeschafft. Der Deutsche Wetterdienst hat mit dem Glauben, Hexen zögen Hagel und Gewitter an, aufgeräumt.
Der Dampfdruck im Stuttgarter Talkessel sorgt aber nicht nur für Schweißperlen oder Schüttelfrost – er hat auch einen direkten Einfluß auf die Bebauung der Innenstadt. Ach, wie gern hätten die namhaften Baumeister dieser Architektenmetropole das Einheitsmuster der Bürger- und Geschäftshäuser durch den einen oder anderen »städtebaulichen Akzent« verschönt. Sprich: durch Hochhäuser, moderate Wolkenkratzer oder einen amerikanischen Trump-Tower. Doch die Bürger und ihre Stadträte hatten Angst, die für Stuttgart so nötigen Frischluftschneisen könnten blockiert werden, worauf die Stadt endgültig im eigenen Saft schmoren würde. Also blieb die altehrwürdige Stiftskirche mit ihrem 61 Meter hohen Hauptturm das Maß aller Dinge, und der Tagblatt-Turm wie auch der Bahnhofsturm – beide Lehrbeispiele gelungener Architektur – mußten sich danach richten.
Daß die Stuttgarter gut daran tun, ihre Grünflächen nicht völlig mit Beton zu versiegeln, zeigt sich immer dann, wenn im Sommer dicke Gewitterwolken am Himmel aufziehen. Während Auswärtige arglos den Schirm aufspannen, gedenken die Einheimischen mit Grausen jener heftigen Unwetter, die das Wasser sturzbachartig über alle Hänge in den Kessel schicken wie in einen großen Trichter. Nicht umsonst gehen dann in manchen Unterführungen die roten Ampeln an: Stop, Überflutungsgefahr! Früher hatte man wenigstens nur befürchten müssen, in den Weinmengen zu ersaufen, die rings um die Stadt reiften. Die Stuttgarter würden dieses Schicksal einer neuen Sintflut noch heute vorziehen.
Viele Wege führen in die Stadt
Lange Jahre mußten sich die Stuttgarter auf den Arm
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