Gebrauchsanweisung für Südengland
Skyline der Kräne und Masten«. Wohin man sich in Portsmouth auch wendet, überall begegnet man der Geschichte der englischen Seefahrt und Marine, deren Hauptquartier seit 500 Jahren hier angesiedelt ist.
Das Meer ist nicht nur manifestierte englische Geschichte, sondern Teil des Alltags der Küstenbewohner. Jeder weiß, daß es eine Gefahr für Besitz und Leben darstellen kann. Doch solange es sich ruhig verhält, ist das Meer Lieferant von Nahrung und Arbeitgeber. Vor allem bietet es auch Erholung für vom Streß geplagte Menschen.
Die Jeans auf der Hafenmole von Watchet hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen. Ölflecken und Farbspritzer liegen friedlich beieinander, das Fett von unzähligen Fish & Chips- Mahlzeiten, achtlos von den Händen gewischt, läßt die Hosennaht in der Abendsonne golden glänzen. Über dem Ledergürtel, der alles mühsam zusammenhält, blitzt ein Stück sonnengegerbter Rücken. Der Rest von Mike hängt kopfüber über dem Wasser und ist ziemlich beschäftigt. Ein Ächzen und Stöhnen, die Jeans bewegt sich, und die neugierigen Touristen treten sicherheitshalber einen Schritt zurück. Langsam kommt ein löchriger, nicht mehr ganz sauberer Pullover ins Bild, gefolgt von einer Nylonschnur an einem Netz, das Mike langsam nach oben zieht. Die Zigarette fest in den rechten Mundwinkel geklemmt, prüft Mike mit kritischem Blick den Netzinhalt. Dann beginnt es, Krebse zu regnen. Ein kleiner Junge auf der Mole schaut fasziniert zu, greift aber nach der Hand des Vaters. Mike grinst und erklärt ihm, daß die Krebse zu klein sind, um gegessen zu werden. Außerdem hatte Mike heute abend Appetit auf Krabben.
Auf seinem Kopf balanciert keck eine rote Wollmütze, ständig vom Absturz bedroht und von Mike in tausendfach erprobter Handbewegung immer wieder zurechtgeschoben. Diese Mütze ist Programm: Viele graue, fröhliche Angler tanzen winkend um den Kopf, in den Umschlag ist ein Spruch gestrickt: »I’d rather be fishing« – ich wäre jetzt lieber beim Angeln.
Sechs Millionen Engländer denken wie Mike und machen damit Angeln zu einem der beliebtesten Freizeitvergnügungen des Königreichs. Nur Dartspielen ist noch populärer. Jeden Abend, wenn die Flut kommt, stehen sie dicht aneinander gedrängt, auf dem West Pier von Watchet und entlang der Küstenstraße von Blue Anchor, so wie überall an der Küste, von der es in Südengland immerhin ein paar tausend Kilometer gibt. Dabei spielt das Wetter keine nennenswerte Rolle. Bei Sturm und peitschendem Regen fischt es sich im Gegenteil besonders gut. Eingepackt in Thermoanzüge, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, gehen Angler zu jeder Tages- und Nachtzeit unverdrossen und mit sichtlichem Vergnügen ihrem Hobby nach, während ihnen Regen und Gischt von der Nasenspitze tropfen.
Vielleicht liegt es an der Angelleidenschaft der Engländer, daß es für Nicht-Angler so schwierig ist, an frischen Fisch zu kommen. Gute Fischhändler sind überraschend selten. Wenn man Appetit auf Fischspezialitäten hat, gut zubereitet und in entsprechendem Ambiente serviert, muß man noch länger suchen. Dabei hat das englische Meer so viele Schätze zu bieten.
Fernsehkoch Rick Stein, der in Padstow in Cornwall mehrere Fischrestaurants betreibt, hat sich auf einen Kreuzzug begeben, seinen Landsleuten die eigene Küste näher zu bringen. Mit Hingabe und Leidenschaft versucht er ihnen klarzumachen, daß es noch andere Zubereitungsmöglichkeiten gibt als Fish & Chips, im Teigmantel frittierte Filets von Kabeljau (cod) oder Schellfisch (haddock) und in reichlich Fett gebackene Kartoffelstücke, serviert mit Salz und Malzessig.
Keine Frage, Fish & Chips ist eine wunderbare Erfindung, wohlschmeckend und sättigend, eine lebensrettende Maßnahme, wenn jemand sein Haus neu streicht, das Dach deckt, den Garten umgräbt oder nach einem langen Spaziergang gegen den Wind am Strand eine Stärkung braucht.
Es gibt nur wenige Fischspezialitäten-Restaurants entlang der englischen Küste, die Jakobsmuscheln (scallops) in Weißweinsauce, gegrilltes Filet vom Seeteufel (monkfish) oder Dorade (black bream) bieten, über einem Algenbett gedünstet und mit Fenchelbutter serviert. Auf die beste aller englischen Vorspeisen, die auch traditionelles Pub-Food ist, trifft man schon häufiger, wenn auch nicht immer frisch zubereitet: Devilled Whitebait, kleine frittierte Fischchen mit einem Hauch von Cayenne-Pfeffer, die nur mit etwas gebuttertem dunklen Brot gereicht werden.
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