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Gebrauchsanweisung für Südengland

Gebrauchsanweisung für Südengland

Titel: Gebrauchsanweisung für Südengland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Kößling
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haben«. Bei Ebbe steht die 521 Meter lange Palace Pier zwölf Meter über dem Meeresspiegel, »ein wunderbar verrücktes, verspieltes Kind des gußeisernen
    Zeitalters«.
    Brighton findet sich in zahlreichen literarischen Werken wieder. Graham Greene benannte sogar einen Roman nach der Stadt: »Brighton Rock – Am Abgrund des Lebens«. Bei dem
    »Rock« handelt es sich übrigens nicht um ein Stück Felsen, sondern eine Art Lutscher, der allerdings hart genug ist, um sich daran die Zähne auszubeißen. Fast jedes Seebad hat seinen eigenen Lutscher. Das Besondere daran ist, daß der Name des Seebads im Anschnitt der Zuckerstange zu lesen ist, von Anfang bis Ende.
    Eine Reise entlang der englischen Südküste eignet sich vortrefflich zu Klassenstudien, hat doch jedes Seebad eine ganz spezielle Klientel mit klassenspezifischen Vorlieben und Abneigungen. Geographisch oft nur durch wenige Kilometer getrennt, können zwischen zwei benachbarten Seebädern Welten liegen. Besucher der jeweiligen Bäder würden für nichts auf der Welt im Nachbarort ihren Urlaub verbringen. »Da möcht’ ich nicht begraben sein!«, verleihen sie ihrer Empörung angesichts eines derart unmoralischen Angebots dramatisch Ausdruck.
    Nehmen wir zum Beispiel die drei Orte Margate, Ramsgate und Broadstairs in Kent, die nur einen Spaziergang weit auseinander liegen und doch unterschiedlicher nicht sein könnten.
    Durch den Bau der Eisenbahnlinie wurde Margate der beliebteste Urlaubsort für badefreudige Eastenders aus Londons proletarischem Osten. Hier begann Paul Theroux seine Reise auf der Suche nach der Quintessenz Großbritanniens. An einem ersten Mai, der gerade politisch korrekt in den Frühlingsfeiertag (Spring Bank Holiday) umbenannt worden war, bestieg er einen Zug nach Margate, da diese Feiertage in Südengland mit einem Tagesausflug an die See assoziiert werden: »Es war traditionell die Zeit, wenn die Leute Richtung Strand aufbrachen, und seit den fünfziger Jahren ist es der Tag, an dem sich Gangs von Jugendlichen mit Schlagstöcken und Ketten bekriegen, in Southend und Margate. Die Engländer sind Gewohnheitsmenschen. Und deshalb habe ich Margate ausgesucht.«
    Seit dem 18. Jahrhundert schon kommen die Londoner nach Margate, erzählte man ihnen doch, wie gesund Meerwasser für Leib und Seele sei. Hier kam der erste Badekarren zum Einsatz und wurde 1791 die Royal Sea-Bathing Infirmary gegründet. Trotz alledem gelang Margate nie der Klassenaufstieg. 1824 beschrieb ein Reisender, wie sich Margate in weniger als einem halben Jahrhundert von einem obskuren Fischerdorf zum vielbesuchten Seebad gemausert hatte. Doch das Attribut elegant verweigerte der Reisende Margate. Hundert Jahre später wiederholte der Baedecker diese Einschätzung. Heute hebt der renommierte Reiseführer neben den kilometerlangen feinen Sandstränden vor allem die Vergnügungsmöglichkeiten hervor: Freizeitpark und Rummelplatz.
    Seebäder, die die unteren Klassen anziehen, haben alle etwas gemeinsam: Endlose Arkaden, die sich die Promenade entlang ziehen, und die Synonym sind für scheinbar identische Räumlichkeiten, in denen sich die Urlauber um Spielmaschinen scharen. Neonlichter wechseln ab mit trüben 30-Watt-Birnen. Hier blinkt es alarmorange, dort giftgrün. Aus jedem Apparat klingelt, schnarrt und pfeift es in unterschiedlichen Tonlagen.
    Zwischen diesen Vergnügungsarkaden quetschen sich nach altem Fett riechende Fish & Chip Shops, und wenig einladende Tea Rooms, die ganztägig Frühstück anbieten, im stetigen Wechsel mit überdimensional großen Souvenirläden, in denen billiger Tand, Postkarten und Teebecher mit anzüglichen Witzen und Motiven den Besitzer wechseln. Am Strand steht eine Hüpfburg und manchmal gibt es donkey rides. Schmächtige, blasse Kinder erwarten in einer Mischung aus Scheu und Abenteuerlust einen Ritt auf einem der Esel, die während der Saison ungeachtet des Wetters immergleiche Runden über den Strand ziehen.
    Die Arkaden sind leicht schäbig und schmuddelig, manche fast anrührend altmodisch. Eine von den leiseren, aber trotzdem überraschend beliebten Vergnügungen ist der penny drop. Menschen stehen gebannt um einen sechseckigen Glaskasten herum, dessen Innerei in sechs Abschnitte unterteilt wurde und so Platz und Unterhaltung für sechs Spieler bietet, die unabhängig voneinander agieren. Jedes Sechstel hat zwei Etagen, gefüllt mit Pennystücken. Ein Schuber kommt in gleichmäßigem Rhythmus aus dem Bauch der Maschine hervor.

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