Gebrochene Versprechen
wie sehr sie das Kribbeln in seiner Gegenwart genoss – und das wiederum hieß, sie würde seine beiden Tattoos nie zu Gesicht bekommen.
Was echt ärgerlich war.
Portsmouth Naval Medical Center, Portsmouth, Virginia
22. September, 06 Uhr 42
Nachdem Mutter und Tochter den Aufzug bestiegen hatten, griff Helen Renault nach Mallorys Hand. Das Mädchen streckte nicht nur die Hand aus, sondern rückte auch näher, sodass sie Schulter an Schulter standen. Mit gerade einmal vierzehn war sie bereits größer als ihre Mutter.
Helen konnte spüren, wie die Hand ihrer Tochter zitterte und wie feucht ihre eigene war. Sie sollten eigentlich gar nicht hier sein. Seit Gabes Verhaftung vor vier Tagen hatten sie ihn noch kein einziges Mal sehen dürfen. Doch vor einem Monat, nach seiner Evakuierung durch die Ärzte von der südkoreanischen Halbinsel, war Gabe bei Doktor Shafer in Behandlung gewesen. Der Arzt hatte sich mit Mutter und Tochter angefreundet, als diese gekommen waren, um den für tot gehaltenen Ehemann und Vater abzuholen.
An diesem Morgen hatte Doktor Shafer Helen gegen vier Uhr mit einem Telefonanruf geweckt. Gabe befinde sich, falls sie ihren Mann sehen wolle, im Moment im Marinekrankenhaus Portsmouth in seiner Obhut. Sofern es ihr gelinge, dorthin zu kommen, bevor die Wachen auftauchten, werde er sie reinlassen.
Helen hatte kaum eine Minute damit vergeudet, sich die Zähne zu putzen und mit einem Kamm durch ihre langen, blonden Haare zu fahren. Als sie ihre Tochter wecken wollte, stieß sie bereits in der Küche auf Mallory, die sich gerade zwei Müsliriegel aus der Vorratskammer nahm. »Dann los«, hatte Mal bloß gesagt.
Offenbar war Helen nicht die Einzige, die in letzter Zeit schlecht schlief.
Mit einem warnenden Läuten glitten die Fahrstuhltüren auf. Helen und Mallory spähten vorsichtig in den Korridor der Psychiatrie, der verlassen schien. Dann hasteten sie verstohlen den Gang entlang bis zu Zimmer 341, in dem Gabe laut Doktor Shafer einigen medizinischen Tests unterzogen wurde.
Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Helen schob sie weiter auf und beide spähten hinein. Die Vorhänge vor dem Fenster waren zurückgezogen und gaben den Blick auf einen Himmel in der Farbe von Pfirsichsorbet frei. Doktor Shafer sah von einem Apparat auf, der über Kabel mit Gabes Kopf verbunden war. Gabe hatte die Lider geschlossen. Doch als er Helens scharfes Einatmen vernahm, schlug er die Augen auf und schaute alarmiert in ihre Richtung. Sein Körper war stets angespannt, seit den zwölf Monaten, die Gabe in der Gefangenschaft seiner grausamen nordkoreanischen Peiniger verbracht hatte, darauf konditioniert, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Er war sichtlich erstaunt, sie zu sehen. »Helen! Mal!« Gabe versuchte, sich aufzusetzen. Dann brummte er ungeduldig, riss sich die Saugnäpfe von Stirn und Brust, warf sie weg und kletterte aus dem Bett, um sie mit offenen Armen zu begrüßen.
Du musst jetzt stark sein , sagte sich Helen, während sie beide auf ihn zueilten. Wie Mallory .
Doch ihre Tochter vergrub das Gesicht an Gabes Schulter und war nicht imstande, wieder aufzuschauen. Da sie Mal dermaßen außer sich sah, konnte Helen nicht anders, sie musste weinen. Und als sie sich gegen den vertrauten Körper ihres Mannes lehnte, quollen heiße Tränen aus ihren Augen.
»Na, na, Ladys«, tadelte Gabe und umarmte sie beide. »So schlimm ist es doch gar nicht.«
»Wir haben dich vermisst«, bekannte Helen mit erstickter Stimme.
»Ich euch auch.«
»Niemand lässt uns zu dir. Ich verstehe das nicht!«
»So macht die Navy das eben, Süße. Keine Besuche, solange die Ärzte mich untersuchen. Auch wenn Doktor Shafer weiß, dass ich nicht gefährlich bin, nicht wahr, Doc?«
Durch den Tränenschleier bemerkte Helen Doktor Shafers teilnahmsvolles Lächeln. Um Gabe und seiner Familie ein wenig Privatsphäre zu gönnen, durchquerte er den Raum und beschäftigte sich mit Papierkram.
»Was soll denn jetzt werden, Gabe?«, flüsterte Helen. Es war nicht fair, dass ihr neues Glück von Außenstehenden bedroht wurde. Man warf Gabe vor, an Verfolgungswahn zu leiden und zwei unschuldige Matrosen getötet zu haben. Doch Helen war dabei gewesen, als der Zwischenfall auf der Nor’easter ein beängstigendes und möglicherweise tragisches Ende genommen hatte. Die Panzerfaust war vom dritten Matrosen nicht ohne Absicht genau auf die Mitte des Schiffs gerichtet worden.
Mit Gabes Waffe von zu Hause hatte Helen auf den Mann
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