Gedrillt
»Schlimmer noch, ich glaube, Andras hat selbst gemerkt, daß seine Komposition nicht sehr gut ist.«
»Armer Andras«, sagte ich.
»Seine Eltern sind die Eigentümer der Konditorei Scolik«, sagte Staiger ironisch. »Kennen Sie die? Jeden Nachmittag stehen da die alten Damen Schlange nach diesem vorzüglichen Mohnstrudel, den sie mit riesigen Portionen Schlagobers verschlingen. Die Konditorei ist die reinste Goldgrube. Der Strudel wird ihm helfen, die Krise seines Selbstvertrauens zu überleben.«
»Ist es das, was er gerade hat?«
»Strudel?« fragte er spöttisch. »Nein, Sie meinen eine Krise seines Selbstvertrauens. Morgen muß er sich den Musikkritikern stellen«, sagte Staiger. »Und Wien brütet eine blutdürstige Rasse von Kritikern aus.«
»Karl!« sagte eine kleine Frau mit scharfen Zügen, die sich durch ihr Benehmen bald unmißverständlich als Staigers Gattin zu erkennen gab. Ohne mich zu beachten, sagte sie: »Anna-Klara ist gekommen, Karl.« Sie berührte seinen Arm. Ich fragte mich, ob sie von den anderen Leben ihres Mannes wußte.
Vielleicht dachte sie, ich sei ein Teil von diesen.
Staiger lächelte befriedigt. »Wirklich? Kolossal!« Ich sollte später entdecken, daß er den Besuch dieser Dame als einen gesellschaftlichen Triumph von erheblichem Gewicht einschätzte. Er blickte umher, wie um sich zu überzeugen, daß kein störender Anblick im Raum ihn in den Augen dieser illustren Besucherin abwerten würde – und fand nur mich. Für einen Augenblick glaubte ich, er würde mich in einem Schrank
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verstecken, aber er schluckte, blickte verständnisheischend seine Frau an und sagte, wie um seine schwierige Lage zu erklären: »Wenn die Gäste gegangen sind, habe ich mit Herrn Dr. Samson noch etwas Geschäftliches zu besprechen.« Er glättete sein spärliches Haar, wie um zu prüfen, ob es noch da sei.
Seine Frau sah mich an und nickte freudlos. Sie wußte, ich war nicht wirklich ein Doktor, ein wirklicher Doktor wäre
»Baron« genannt worden und ein wirklicher Baron »Fürst«. So läuft das in Österreich. Ich lächelte, doch sie erwiderte mein Lächeln nicht. Sie war eine pflichtbewußte österreichische Hausfrau, die alles Geschäftliche ihrem Mann überließ, sich aber nicht verpflichtet fühlte, seine abgerissenen Arbeitskollegen zu mögen. »Da kommt Anna-Klara«, sagte sie.
Es war die Ankunft dieses Ehrengastes, die alle gespannt erwartet hatten. Diese Sopranistin war an diesem Abend in der Oper aufgetreten, und als sie den Raum betrat, entsprach ihr Auftritt der Verehrung, die ihr vom hier versammelten Publikum entgegengebracht wurde. Schwungvoll schwebte sie in ihrem langen, fließenden Gewand herein. Das hoch auf dem Kopf getürmte blonde Haar glitzerte von Juwelen. Das Make-up war vielleicht ein bißchen zu dick aufgetragen, aber das gehörte sich wohl so für jemanden, der gerade von der Opernbühne kam. Die Gäste begrüßten sie mit einem feierlichen Gemurmel der Scheu und Andacht. Von den Staigers begleitet, ging die gnädige Frau von einem zu anderen wie ein General, der eine Ehrenwache abschreitet. Hier war mit tiefer Verbeugung ein »Herr Doktor …« und die »Frau Doktor
…« seine Frau. Die Gattin des Bürokraten, »Frau Kommerzialrat«, machte eine Art Hofknicks. Der »Hofrat« –
Rat am Hofe einer schon vor seiner Geburt abgeschafften Monarchie – küßte ihr die Hand. Anna-Klara hatte für jeden ein liebenswürdiges Wort und besondere Komplimente für Andras Scolik und sein Streichquartett, zu dessen Aufführung
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sie nicht hatte kommen können. Scolik strahlte. Anna-Klara hatte ihn gelobt. Und wenn alle Stricke rissen, gab es immer noch den Strudel.
Es war ein bravouröser Auftritt, und mit sicherem Instinkt blieb Anna-Klara auch nur auf ein Glas Champagner. Nachdem sie gegangen war, löste sich die Party schnell auf. Es war Mitternacht, als ich mich mit Karl Staiger in dessen Büro hinter dem Laden begab. Alle Kirchenglocken Wiens schlugen die Geisterstunde. Der Raum roch nach Firnis, und Staiger öffnete das Fenster einen Spaltbreit trotz der bitteren Kälte draußen.
Dann nahm er einen Stoß ungeöffneter Briefe, die am Zifferblatt einer alten Kutscheruhr lehnten, und verglich deren Zeit mit seiner Taschenuhr. Die alte Kutscheruhr war ein schönes Stück, auf das Zifferblatt waren tanzende Damen gemalt. Die Unruhe tickte glücklich in dem verglasten Gehäuse. Er nickte mir stolz zu, wie ein Vater lächeln mag, wenn ein Kind den
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