Gefaehrlich begabt
as Schlimmste an Situationen wie diesen war das Warten. Warten darauf, etwas tun zu können.
Anna erinnerte sich an eine Geschichte, die ihre Mutter ihr als Kind erzählt hatte. Die Geschichte handelte von einer kleinen Raupe, die sich totgewartet hatte, bevor sie zum Schmetterling wurde. Anna fühlte sich wie die Raupe, sie spürte bereits die Starre in ihrem Kokon.
Weder Marla noch Sebastian hielten es für nötig, sich bei ihr zu melden. Selbst ihre Telefone hatten sie ausgeschaltet. Sally ließ jegliche Versuche, sie doch noch zu überreden, vor ihrem großen Tag zu starten, im Sande verlaufen. Sie sprach nicht einmal mehr mit ihr und ging ihr tunlichst aus dem Weg. Um die Zeit totzuschlagen, besuchte Anna sogar die Schule. Zumindest Paps freute das.
Der Tag der Hochzeit kam, doch Feierlaune bahnte sich nicht an. Wie auch? Eine quälende Dunkelheit hatte sich über ihren Horizont gezogen und Angst lähmte jegliches Hoffnungsgefühl, erstickte es im Keim. Außerdem fehlte er.
Sie vermisste ihn jede Sekunde. Die Vorstellung, sie könnten zusammen unbeschwert die Hochzeit besuchen, erschwerte ihr Herz. Der Tag, an dem er ihrem Vater eine Einladung abgeschwatzt hatte, schien Ewigkeiten her zu sein. Das war in einem anderen Leben …
Das Kind war sprichwörtlich in den Brunnen gefallen, irgendwelche hypergefährlichen Magier jagten sie und ihresgleichen und ihre Freunde schienen vom Erdboden verschluckt.
Sallys Schwester riss energisch an ihren Haaren und Anna damit aus ihren Gedanken. »Gott, Anna, benutzt du nie eine Spülung?«
Rebecca übernahm den Job der Stylistin. Sie konnte nicht leugnen, Sallys Schwester zu sein. Sie bestand darauf, dass alle super aussahen für die Fotos. Wenn Anna nur im Entferntesten aussah, wie sie sich fühlte, würde Sally weinend vor dem Altar zusammenbrechen. Grimmig warf sie Rebecca einen Blick zu. Konnte ja nicht jeder Haare wie Rapunzel haben.
»Fertig.« Sie drehte den Stuhl und Anna sah in den Spiegel. Ihr klappte die Kinnlade hinunter. Wie sah sie denn aus? Irgendwie hatte es Rebecca geschafft, ihre kinnlangen Haare in eine Hochsteckfrisur zu zaubern. Der roséfarbene Lidschatten brachte das tiefe Blau ihrer Augen zur Geltung und harmonierte mit dem lilafarbenen Polyesterkleid. Anna sah fünf Jahre älter aus. Aber was nutzte das schon, er würde es nicht sehen …
»Ich geh noch schnell nach der Braut sehen. Hast du die Ringe?«
Himmel, die Ringe! Fast hätte Anna sie vergessen. Sally bereute sicher längst, sie als Trauzeugin gewählt zu haben. Sie hatte die Ringe bis zur letzten Sekunde selbst aufbewahrt und auch sonst so ziemlich alles allein machen müssen.
Anna griff nach der Jeansjacke, die über dem Stuhl hing. »Ja, hab ich.«
Mit einem strengen Blick eilte Rebecca aus dem Zimmer, sie hielt sie entweder für verrückt oder für einen Hochzeitsterroristen.
Die Fahrt zum Standesamt nahm Anna laut und hektisch wahr. Die Schwestern besaßen ein Organ, das so manchem Marktschreier alle Ehre machte. Ihr Vater fuhr mit ein paar Arbeitskollegen vor. Sally bestand darauf, ihn vor der Trauung nicht zu sehen, schließlich brachte das Unglück. Annas Frage, was denn noch schlimmer werden könnte, belächelte sie müde. Sie ließ sich diesen Tag nicht nehmen, aber Anna wusste ja, dass kein größerer Egoist auf dem Erdboden wandelte.
Eine kirchliche Trauung gab es nicht. Keiner der beiden gehörte einem Glauben an. Dafür sollte die Feier danach umso größer werden, sie hatten sogar einen Saal gemietet. Der Oldtimer, der extra zu diesem Anlass ausgeliehen worden war, hielt pünktlich auf dem Amtsparkplatz. Eine kleine Gruppe hatte sich zusammengefunden, um die Braut zu bestaunen. Sie brachen in übertriebenen Jubel aus, als Sally ihr langes, weißes Kleid aus dem schwarzen Auto hob. Es hatte sicher ein Vermögen gekostet, zumindest sah es so aus.
Lustlos trottete Anna hinter ihr die große Eingangstreppe hinauf. Noch nie kam ihr ein Weiß scheinheiliger vor. Der Lage nach zu urteilen sollten alle schwarz tragen. Es fiel ihr schwer, auf ihren Absätzen zu laufen, sie trug lieber Turnschuhe.
Sally betrat das Standesamt, ihr Vater hielt die Luft an. Er sah glücklich aus, wenigstens einer von ihnen. Aber ihn segnete auch das Glück, nichts von Erbschleichern und mysteriösen Morden zu wissen. Inzwischen bereute sie es, Evas Gabe angenommen zu haben. Aber ohne sie würde sie Sebastian nicht kennen. Sie wusste nicht, was schlimmer gewesen wäre.
Das kleine Zimmer wirkte
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