Gefaehrlich begabt
Familie, vielleicht auch sein Naturell, nahm ihm alles, wofür es sich seiner Ansicht nach neuerdings zu leben lohnte.
Wenn ihm das einer vor wenigen Wochen erzählt hätte, er wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen. Er, der unerschrockene und starke Sebastian Fingerless, verliebte sich in ein Menschenmädchen und musste sich deshalb nicht nur vor ein paar wild gewordenen Beiratsmitgliedern, sondern auch vor seiner eigenen Familie verstecken. Ironischer konnte sich das Leben kaum entwickeln. Es glich einem Thriller und der Drehbuchautor verdiente einen Kopfschuss.
Und nun? Wie ging es weiter? Er konnte doch nicht ewig bei dieser Fremden leben.
»Sebastian? Wie magst du deine Eier essen?«
Dany, die junge Frau, bei der er dank seiner Beeinflussung wohnen durfte, stand in der Küche und bereitete ein üppiges Frühstück zu. Nach seinem Geschmack zu urteilen, aß sie zu oft auf diese Weise. Aber das sollte nicht sein Problem sein, er besaß schließlich genug richtige Sorgen. In seinem Magen lag ein dicker Stein, unvorstellbar, einen Bissen hinunterzubekommen. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, und die immer wieder neu aufsprudelnden Ideen zu sortieren.
Das menschliche Gehirn machte im Durchschnitt wohl zwei Prozent der Körpermasse aus. Sebastian wusste nicht, ob sich ein Magierhirn mit dem eines Menschen vergleichen ließ, aber es erschien ihm nicht so. Sein Kopf wog schwer mit trüben Gedanken, die sich einfach nicht in die richtige Reihenfolge bringen ließen und dennoch nach einer Lösung schrien. Zehn Prozent der Körpermasse traf es wohl deshalb viel eher.
Er konzentrierte sich, um wenigstens die sinnlosesten Gedankenstränge loszuwerden, und um einem roten Faden zu folgen, der ihm weiterhalf. Wie war der Beirat beim letzten Mal vorgegangen? Er musste wissen, was sie taten, wie sie handelten. Ging es Anna gut? Der Gedanke, dass sie sie seinetwegen bestraften, jagte ihm einen eisigen Schauder über den Rücken. Zentnerschwere Schuldgefühle ließen sich auf seinen Schultern nieder.
Die Lösung des Problems konnte eigentlich nur jemand liefern, der wusste, wie die Engländer arbeiteten.
Dany erschien im Türrahmen und riss ihn aus seinen Gedanken. »Hast du keinen Hunger?« Ihre Augen blickten trotz der freundlichen Stimme dunkel und leer.
Seine Kontrolle saß perfekt. Dass es ihm nicht leidtat, sie so zu benutzen, nagte ordentlich an seinem Gewissen, doch seine Liebe zu Anna verdrängte seine übernatürliche Seite nicht ganz. »Ich will nichts, danke.«
»Aber du musst etwas essen.« Euphorisch nickte sie ihm zu.
»Ich sagte, ich will nichts.« Die Worte fielen scharf aus. Musste sie so nerven? Natürlich trug allein der Fluch S chuld an dem Charakterzug, aber das änderte nicht seine Meinung.
Dany schenkte ihm ein trübes Lächeln und verschwand in der kleinen Küche.
Verdammt, wie ging der Beirat vor? Die grauen Zellen ratterten, die Antwort schien greifbar nahe. Ihm lag es auf der Zunge.
Ein ehemaliger Hunter! Die blitzartige Eingebung rüttelte ihn wach. Wieso kam er erst jetzt darauf? Nicht alle Kämpfer waren damals seiner Familie zum Opfer gefallen, einige überlebten die Schlacht. Die, die schlussendlich auch siegten. Es war viele Jahre her, aber möglicherweise lebte noch einer der Männer.
Weitere Antworten fand er bestimmt in Marlas Haus. Die Hexe bewahrte allerhand alte Informationen auf ihrem Dachboden auf. Der Stein aus seinem Magen legte sich nun schwer auf das Herz. Wenn es nicht noch mehr Tote geben sollte, musste er diese Hürde nehmen. Das Leben verlangte ihm nicht zum ersten Mal etwas Schweres ab.
»Dany? Ich muss weg. Verlass das Haus nicht.«
»Aber wo willst du denn hin?«
»Verlass das Haus nicht«, wiederholte er. Sein Blick bohrte sich einen Weg in ihren Verstand. Er griff nach dem Schlüssel und stürmte aus der Dachgeschosswohnung.
28. Kapitel
Brief aus der Vergangenheit
A nna vernahm Gemurmel aus dem Flur. Die Zimmertür öffnete sich und ihr Vater blickte um die Ecke. Er sah fix und fertig aus. Wenn sie nur halb so kaputt aussah, dürfte sie nicht mehr auf den Beinen stehen. Wie schaffte er das?
»Darf ich?«, fragte er.
Sie nickte und rutschte zur Seite. Er setzte ein missratenes Lächeln auf und nahm das stille Angebot an. »Anna, wieso hast du mir nichts von alldem erzählt?«, begann er das Gespräch. Er klang fremd, ängstlich und fast so, als drohte er jede Sekunde am nächsten Wort zu ersticken. Aber solche Situationen spornten Paps‘
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