Gefaehrlich verliebt in Mona Lisa 2
ziehen, um den Karton zu öffnen. Doch davor schrecke ich zurück. Meine Finger zittern, ebenso wie meine Beine, auf denen die ganze Kiste steht und bebt.
„Du siehst nicht gerade gut aus“, stellt Mel besorgt fest und verschließt die sonst stets offen stehende Bürotür.
Wortlos sehe ich zu dieser Frau auf, die mir so schnell immer mehr zu einer Freundin wird. Ich verstehe nicht, warum Gabriel meinem Chef die Bilder gegeben hat. Mathis’ Freund scheint eine größere Rolle in dem ganzen Schlamassel zu spielen als angenommen. Wie ich von Mel weiß, hat er Jerôme meinen Job mehr oder weniger aufgeschwatzt. Und jetzt erscheint er in Zusammenhang mit diesen Bildern, die mir doch Mathis zugeschickt hat. Oder etwa nicht?
„Soll i ch dich auf dein Zimmer bringen?“, fragt Mel.
„Tut mir leid. Mir sind nur ein paar Dinge durch den Kopf gegangen.“ Ich schüttele den Kopf. Nein, ich will nicht allein sein, wenn ich diese Bilder durchsehe. Mel kennt meine Geschichte mehr oder weniger. Ich habe sie ihr erzählt. Es wird mir helfen, wenn sie bei mir sitzt, während ich die Fotos ansehe.
„Siehst du die Fotos mit mir gemeinsam an?“, frage ich sie.
„Sehr gern. Ich habe Zeit. Wenn es dir zu intim wird, sagst du einfach, dass ich gehen soll.“
Sie ist wirklich ein Schatz und hätte mehr verdient als mein schwaches Lächeln, doch mehr als das bekomme ich gerade nicht zusammen.
Seufzend stelle ich den Karton mitten auf meinen Schreibtisch. Und dann öffne ich ihn.
„Ach du lieber Himmel“, ruft Mel. „Das müssen mehrere tausend Fotos sein.“
Keine Ahnung, womit ich bei dem Gewicht der Kiste gerechnet habe. Vielleicht mit vier oder fünf Fotoalben. Aber damit ganz bestimmt nicht. Jetzt verstehe ich, warum Mathis mir erst drei Fotos geschickt hat. Die Fotos liegen einfach so in dem Karton, zeitlich vollkommen unsortiert. Alles kreuz und quer durcheinander.
„Da blickt doch kein Mensch durch“, stelle ich fest.
Mel nickt. „Da hilft nur eins: Wir schütten den Karton aus und nehmen uns ein Bild nach dem anderen vor.“
Gemeinsam drehen wir den Karton um. Ein an seiner höchsten Stelle etwa zwanzig Zentimeter hoher Berg, bestehend aus Fotografien, ergießt sich über meinen Schreibtisch. Ein paar Bilder rutschen über den Rand des Tisches auf den Boden. Mel und ich bücken uns gleichzeitig danach. Fast stoßen wir mit den Köpfen zusammen.
Das erste Bild, das ich in die Hand nehme, zeigt ein Paar in inniger Umarmung. Es ist von Februar 1989. Ich liebe sie, steht auf der Rückseite.
„Mein Gott“, sagt Mel. „Sind das deine Eltern? Deine Mutter und dein Vater, den sie dir jahrelang verschwiegen hat.“
Ich nicke. „Ich dachte, sie sei jung und dumm gewesen. Und dass sie ihm nichts bedeutet hätte.“
„Das sieht nicht so aus“, murmelt Mel und reicht mir ein weiteres Umarmungsbild. Dann ein Bild, auf dem er sie auf seinen Armen trägt. Eines, auf dem sie auf seinen Schultern sitzt. Ein weiteres, auf dem sie sich im Schnee wälzen. Lachend. Alle beide. Sie sind so glücklich.
Beim Anblick des lachenden Paares im Schnee krampft sich mein Magen zusammen. Mathis und ich haben nicht gelacht. Dieses Glück war uns nicht vergönnt. Die Situation war eine andere. Aber die von Antoine und meiner Mutter war auch nicht optimal. Er war verheiratet. Und sie war viel zu jung für eine Affäre.
Mel und ich stehen auf und wühlen staunend in dem Fotoberg auf dem Schreibtisch. Plötzlich halte ich ein Foto in den Händen, das meine Mutter zeigt, als ich schon zum Gymnasium ging. Ich war vierzehn. Das weiß ich so genau, weil Mama sich in diesem Jahr ihr Haar rot gefärbt hatte. Sie sah grauenhaft aus, fand ich damals. Das Foto wurde am Meer aufgenommen. Bei den Wellen, die im Hintergrund toben, vermutlich am Atlantik. Mutter steht da, bis zu den Knien im tosenden Meer und bedeckt ihre bloßen Brüste mit den Händen. Sie strahlt geradezu. Etwas Neckisches liegt in ihrem Blick. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie und ich in diesem Jahr verreist waren. Schon gar nicht habe ich sie je oben ohne baden sehen.
Zwei Tage Glück, steht auf der Rückseite. Und das Datum. Ich hatte recht, damals war ich vierzehn.
Ich muss mich setzen.
Meine ach so zurückgezogen lebende Mama hat ein Doppelleben geführt. All die Jahre, in denen ich mich nach einem Vater sehnte, hat sie sich heimlich mit ihm getroffen.
„Ich habe davon nichts geahnt“, sage ich matt und starre auf das Oben-ohne-Foto. „Nicht das Geringste.
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