Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben
weißer Lilien kehrte ich zum Auto zurück.
»Da wird sich Herr Kröll aber freuen«, sagte Enzo.
»Das glaube ich kaum«, sagte ich. »Er ist nämlich tot.«
Auf dem Weg zur letzten Ruhestätte von Heiner Kröll kam ich an dem Grab vorbei, wo der coole Typ mit der stacheligen Frisur am Freitag gestanden hatte. Es war mit Efeu bepflanzt und sah so aus, als ob es seit Jahren nicht gepflegt worden war. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf die Inschrift. Dr. Clothilde Meyer, geboren 1903, gestorben 1972. Komisch, dachte ich und blieb stehen. Das war merkwürdig. Wieso weinte man an einem Grab von jemandem, der schon lange vor der eigenen Geburt gestorben war? Irgendwas stimmte hier nicht. Ich verharrte einen Moment vor dem verwitterten steinernen Engel und schaute, ob ich irgendwas übersehen hatte. Dann blickte ich auf. Und bemerkte es. Von hier aus hatte man den perfekten Blick auf Lauras Grab auf dem Hügel. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Der junge Mann war gar nicht wegen Clothilde Meyer hier gewesen! Er war zu Lauras Beerdigung gekommen! Er hatte nur nicht dabei sein dürfen. Oder wollen. Wie elektrisiert lief ich zu Lauras Grab. Auf dem Weg stellte ich schnell die Lilien auf Heiner Krölls Grab und bedankte mich für die großzügige Leihgabe. An Lauras letzter Ruhestätte sah ich sie, oben auf dem Berg an weißen Blumen, wie ein Blutfleck auf bleicher Haut – die rote Rose. Oh mein Gott, dachte ich. Das war er gewesen! Lauras ominöser Freund. Der Freund, dessen Namen niemand kannte.
20
Meinen Eltern und ihrem Heer von Anwälten hatte ich wegen des drohenden Rauswurfs nichts gesagt. Ich hätte meine Tante fragen können, die war auch Anwältin, aber das war mir zu peinlich. Außerdem war ich der Lösung des Falls einen großen Schritt näher gekommen, das war es, was zählte und womit ich vielleicht bei der Schulleiterin punkten konnte. Ich hatte Lauras Freund gesehen. Und vielleicht würde ich heute in Lauras Spind einen Hinweis auf ihn finden. Einen Namen, ein Foto. Ein Junge, wegen dem man sich umbringt, musste sichtbare Spuren im Leben hinterlassen haben. Vor der Theater-AG traf ich mich mit Nora.
»Ich hab ihn!« Nora wedelte mit dem Schlüssel. »Ich habe Schmitz gesagt, dass ich mein Fach nicht öffnen kann, weil ich meinen Schlüssel verloren habe.« Sie kicherte. »Er macht um die Zeit immer Mittagspause, und die ist ihm heilig. Da hatte er keine Lust mitzukommen. Aber ich habe ihm versprochen, den Universalschlüssel sofort zurückzubringen.«
»Hast du schon reingeguckt?«, fragte ich aufgeregt.
»Nein, natürlich nicht. Ich habe auf dich gewartet.« Wir gingen in den Raum neben der Aula, der für die Theater-AG der Oberstufe vorgesehen war. Er diente als Umkleide und in einer Reihe Schließfächer konnten die Schülerinnen ihre Sachen aufbewahren. »Das ist es«, sagte Nora und zeigte auf Fach Nummer 17.
»Los, mach es auf.«
»Meinst du echt?«
»Na klar!«
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete es. Das Schrankfach war ungefähr dreißig Zentimeter breit. Darin herrschte Ordnung. Kein Durcheinander, wie das in meinem Spind der Fall wäre. Das Erste, was ich sah, war ein Foto von Laura im Kostüm von Maria Stuart, das an der Innenseite befestigt war. Da war noch ein zweites Bild von einer Szene, auf dem Coco, Alina, Deborah, Fabienne und Laura drauf waren. Ein Paar Ipanema-Flipflops. Make-up-Entferner. Eine Flasche Wasser. Ein Apfel, schon leicht angerunzelt.
Nora flüsterte: »Lass uns schnell zumachen. Da kommt jemand!«
Aber ich würde jetzt nicht aufgeben. Weiter hinten lag Seidenpapier. Ich griff hinein und fand eine hellrosa Bluse, gebügelt und zusammengelegt, die in dem Papier eingeschlagen war. Zwei Reclam-Hefte, Schiller und Kleist. Eine Schachtel mit Make-up. Eine Haarbürste.
»Beeil dich«, wisperte Nora. Und dann sah ich es. Unter der Make-up-Schachtel: eine Kladde, DIN A5, roter Seideneinband mit Schmetterlingen drauf.
»Was ist das?«, fragte Nora, als ich es rausgeholt hatte. Ich blätterte es durch. Handschriftliche Notizen. Mir wurde warm. »Das ist ein Tagebuch!«, flüsterte ich atemlos.
»Was?« Noras Stimme klang schrill.
»Ja, hör dir das an!« Ich schlug wahllos eine Seite auf und las: »Heute hatten wir Theaterprobe. Ich habe die Hauptrolle bekommen! Den anderen hat das nicht so gefallen. Besonders Coco hat mal wieder rumgestänkert. Aber das tut sie ja immer.«
»Wow!«, entfuhr es Nora.
»Ja, das würde ich auch sagen. Wow!«
»Aber
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