Gefaehrlicher Liebhaber - Jagd auf Jack the Ripper
zerfetzten Frauenleichen. Eine dunkle Gestalt in einem schwärzlich-dreckigen Hinterhof.
Wie nahe er sich dem Mörder fühlte, als brauchte er nur die Hand ausstrecken, um ihn greifen zu können. Dennoch – dass es Kieran sein könne, daran glaubte er nicht mehr.
Es waren weniger seine Gefühle für den Bandenchef, die ihm das eingaben, als vielmehr der Gedanke, dass ein Mensch, der zu solchen Taten fähig war, anders sein müsse.
Gut, Kieran war sicherlich alles andere als ein Waisenknabe, aber ihm fehlte dieser Hauch von Wahnsinn, den der Whitechapel-Mörder mit Sicherheit ausstrahlte.
Verschlagen – ja! Brutal – ja! Aber nicht wahnsinnig.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug Mitternacht. Als kleiner Junge hatte er die „Geisterstunde“ immer gefürchtet. Und auch jetzt war ihm nicht wohl. Vielleicht fiel der Ripper – ja, jetzt nannte er ihn auch schon so – gerade über eine wehrlose Frau her …
Was Kieran jetzt wohl tat? St. John durchstöberte seine Gedanken nach möglichen Antworten. Schmerzlich wurde ihm bewusst, wie wenig er von Kieran wusste. Von dessen Alltag. Beim nächsten Treffen würde er ihn fragen.
In diesem Moment zog er innerlich die Zügel an. Wie konnte er an den Bandenchef wie an einen Freund denken? Sie standen auf verschiedenen Seiten. Selbst wenn Kieran nicht der Ripper war.
Er war der Gute, Kieran der Böse. Er schickte Frauen auf den Strich, beging zahllose Verbrechen. Sich gefühlsmäßig an einen solchen Mann zu hängen, machte keinen Sinn. Die Messerstecherei hatte eines genaugezeigt: Kieran lebte ein gefährliches Leben. Und wenn er mit Sicherheit vieles wurde, aber eines sicherlich nicht, nämlich: alt!
St. Johns Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Es war Zeit, schlafen zu gehen. Er ging in seine Zimmer und läutete dem Kammerdiener. Die Vorhänge waren bereits geschlossen und auf einem kleinen Tisch hatte man einen Nachttrunk vorbereitet.
Träge ließ er sich in sein frisches Nachthemd helfen und legte sich ins Bett. Als er sich auf die Seite drehte, ertappte er sich, wie er unwillkürlich einen Arm ausstreckte und das Kissen berührte, das normalerweise als Paradekissen obenauf lag. Und er ertappte sich noch bei etwas: bei der Sehnsucht nach dem Unmöglichen.
Elizabeth stand vor der schäbigen Behausung, ihre Freundin Dora neben sich. Dora, die sie zu sich nach Hause gebeten hatte, um einen weiteren Korb mit Kartoffeln zu holen, den man ihnen gespendet hatte, war ihr immer als etwas Besonderes vorgekommen. Als eine Art Engel. Und jetzt zu sehen, dass sie in einem heruntergekommenen, kasernenartigen Haus wohnte, dessen Türen schief in den Angeln hingen und dessen Fenster kaum den Regen abhielten, machte sie betroffen.
Der Gestank im Treppenhaus war atemberaubend. Von überall her schienen Stimmen zu kommen, selbst aus den Wänden. Leute, die sich stritten, Kindergeschrei.
Elizabeth empfand plötzlich ein schier nicht niederzuringendes Verlangen, davonzulaufen. Doch sie hatte versprochen, den Korb mit Dora zu holen und nun konnte sie nicht mehr zurück. Musste dem ins Auge sehen, was sie lieber nie erblickt hätte.
„Es sieht hier schlimm aus, nicht wahr?“, sagte Dora leise, offenbar niedergedrückt von dem stummen Entsetzen in Elizabeths Gesicht. „Wir … wir können uns nichts anderes leisten … seit Mutter und Vater tot sind. Glaub mir, wir haben schon bessere Zeiten gesehen!“, stieß sie hervor.
„Ach komm“, munterte Elizabeth sie auf. „Du bist meine Freundin. Nur das zählt!“ Als sie es sagte, hatten sie das düstere Zimmer bereits betreten, doch die Antwort kam nicht von ihrer Freundin, sondern aus einer Ecke des Zimmers, die notdürftig von einer übel riechenden Stearinkerze erhellt wurde.
„Trotzdem freut sie sich maßlos, wenn sie hier wieder weg kann. Also beeil dich, Schwesterlein, damit deine Freundin sich bei uns keine dreckigen Stiefel holt.“
Elizabeth erstarrte. Seine Worte waren schlimmer als eine Ohrfeige. Wenn sie mit allem gerechnet hatte – damit nicht! Sie war so geschockt, dass sie nicht gleich merkte, wie hinter ihr die Tür aufgezogen wurde.
„Dora … könntste mal runterkommen. Die Momme ist gestürzt. Se hat sich wohl was gemacht …“, sagte eine Kinderstimme mit schwerem Akzent.
Ihre Freundin nickte und folgte dem Mädchen nach draußen.
Elizabeth blieb mit Jeffrey allein. Er saß da und machte Notizen in ein aufgeschlagen vor ihm liegendes, dickes Buch. Der Bleistift war so kurz, dass er ihn kaum noch
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