Gefährlicher Sommer
keine Rolle für dich, oder? Du bleibst jetzt erst einmal ein paar Tage mit uns hier. Und wenn du schreist ...« Er machte eine Handbewegung zu dem Tuch hin, das jetzt auf dem Boden lag.
Diane schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich schreie bestimmt nicht!«
Sie würde alles tun, was man von ihr verlangte, wenn man sie dafür nur nicht wieder halb ersticken ließe.
Carlo verschwand. Sie hörte, wie er die Tür absperrte. Er hatte Diane zwei brennende Kerzen dagelassen, sodass sie ihre neue Umgebung wenigstens schattenhaft erkennen konnte. Es gab nicht viel in dem Zimmer: einen wackeligen Tisch, einen Stuhl mit drei Beinen, einen Sessel, der nach Mottenpulver stank und staubte, wenn man ihn nur anschaute. Auf dem Boden wellte sich ein uralter Teppich, der aussah wie ein Schweizer Käse, über und über durch Löcher verunziert.
Und es gab ein Fenster!
Man konnte kaum hindurchsehen, so dick war die Staubschicht, aber es ließ sich immerhin öffnen, und zwar erstaunlicherweise, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Diane hatte den Atem angehalten, aber nun lehnte sie sich hinaus. Was sie sah, deprimierte sie: Die Erde lag viel zu weit unter ihr, als dass sie es hätte riskieren können zu springen. Sie würde sich die Beine dabei brechen. In einiger Entfernung entdeckte sie die Umrisse eines Rohres, von dem sie allerdings nicht ausmachen konnte, ob es bis nach unten führte. Aber wie sollte sie bis dahin kommen, um dann möglicherweise hinunterzurutschen? Ja, wäre sie sportlich wie Angie oder so ein richtiger drahtiger, kleiner Klammeraffe wie Pat ... Die beiden Mädchen würden es wahrscheinlich riskieren, aber sie ... Sport war nie ihre starke Seite gewesen, denn obwohl sie schnell und gewandt war, fehlte es ihr an Kraft und Wagemut. Sie fürchtete sich schnell, wenn sie an etwas hinaufklettern oder über etwas hinüberspringen musste. Meistens ging es dann natürlich auch tatsächlich schief.
Sie schloss das Fenster wieder und setzte sich auf den dreibeinigen Stuhl. Der fühlte sich zwar hart und unbequem an und er wackelte auch bedenklich, aber da Diane nicht in den grässlich schmutzigen Sessel wollte, blieb ihr keine Wahl. Sie saß dort und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Was konnte mit ihr geschehen?
Eines stand fest: Vorerst konnten es Carlo und seine Leute nicht riskieren, die Insel zu verlassen. Außerdem mussten sie damit rechnen, dass ein gewaltiges Polizeiaufgebot nach ihnen suchte, nun, da sie auch noch ein junges Mädchen entführt hatten. Wie sicher konnten sie sich in diesem Haus fühlen?
Wenn es wirklich sehr verborgen lag, hatten sie eine gewisse Chance, unentdeckt zu bleiben, denn schließlich waren sie der ersten großen Fahndung nach dem Überfall auf den Loro-Parque auch entgangen, aber diesmal würde wahrscheinlich alles rückhaltlos durchgekämmt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei sie aufstöberte, war nicht gerade gering. Und was würde das für sie, Diane, bedeuten?
Sie war eine Geisel. Also gewissermaßen ein lebendes Schutzschild für die Verbrecher. Sie kannte das aus Gangsterfilmen: Die Schurken forderten freien Abzug, ein Fluchtauto und ein Flugzeug und Gott weiß was, und die Geisel musste mitkommen, eine entsicherte Pistole ständig an die Schläfe gedrückt. Mitkommen wohin? Was würde dann passieren, wenn sie zu einer Belastung wurde? Wenn man keine Geisel mehr brauchte?
Wozu war dieser Carlo fähig?
Unmöglich, jetzt zu schlafen. Allein schon der quälende Hunger hielt sie wach. Und Durst verspürte sie auch immer heftiger. Wäre Angie doch wenigstens hier. Diane wusste, sie würde sich viel besser fühlen mit ihrer starken, unerschrockenen Schwester an der Seite. Wenn sie es richtig überlegte, waren sie ganz selten nur im Leben voneinander getrennt gewesen. Sie hatten gemeinsame Freunde und waren auch in der Freizeit beinahe immer zusammen. Sie verreisten gemeinsam, tauschten ihre Kleider, zogen sich sogar oft völlig gleich an. Angie würde sie nicht im Stich lassen, das wusste Diane. Sie würde nicht ruhen, ehe nicht alles getan wäre, um sie hier herauszuholen. Und die anderen würden ihr natürlich beistehen. Gerührt dachte Diane daran, wie Chris sich sofort anerboten hatte, an ihrer Stelle zu gehen. Wie nett von ihm, wie mutig!
Sie stand wieder auf und trat ans Fenster. Draußen lag tiefdunkle Nacht. Wie nur sollte irgendjemand herausfinden, wo sie sich befand?
Nach ihrer langen Vernehmung auf der Polizeiwache waren die Freunde nach Hause
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