Gefährliches Geheimnis
Verteidigung tappte im Dunkeln, und die Geschworenen sahen es. Es lag in der Luft wie das Echo eines Geräusches, das gerade verklungen war.
Hester stand einen Tag nach dem anderen durch, sehnte sich nach Monks Rückkehr, fragte sich, was er machte und ob er in Sicherheit war. Sie versuchte, sich vorzustellen, wo er war, was für Zimmer er hatte, ob man gut für ihn sorgte, ob er fror und etwas Anständiges zu essen bekam, ob Callandra ihm ausreichend Geld mitgegeben hatte. All das nur, um ihre Gedanken von dem eigentlich wichtigen Thema – was er über Kristian herausfand – abzulenken. Selbst die Einsamkeit, der fast körperliche Schmerz, mit dem sie ihn vermisste, war besser als die Angst und die bittere Enttäuschung, die Unfähigkeit, etwas tun zu können.
Sie versuchte, sich nicht umzudrehen und nicht zur Anklagebank hochzuschauen, denn dabei kam sie sich vor wie ein Eindringling. Was würde Kristian in ihrer Miene sehen, wenn er sie ansah? Zweifel. Angst um ihn und um Callandra. Sie hatte schreckliche Angst vor den Schmerzen, die es Callandra zufügen würde, wenn man Kristian für schuldig befand. Würde sie weiter an seine Unschuld glauben, ganz egal, was geschah? Oder würde sie schließlich aufgeben und akzeptieren, dass er schuldig sein konnte, wodurch auch ihr Glaube an ihn auf schreckliche Weise zerstört werden würde?
Würde sie danach je wieder die Gleiche sein? Oder würde etwas in ihrem Innern zerbrechen, eine Hoffnung, die Fähigkeit, nicht nur Menschen, sondern auch dem Leben selbst zu vertrauen?
Hester saß, auf beiden Seiten eingezwängt von neu- gierigen, kritischen Beobachtern, auf der harten Bank, war sich deren Atem bewusst, ihrer winzigen Bewegungen, dem Knarren der Korsetts und dem leisen Rascheln von Stoff, dem Geruch nach feuchter Wolle und dem Schweiß von Spannung und Aufregung.
Sie blickte zu Callandra hinüber und sah die Erschöpfung in deren Gesicht. Ihre Haut war papiern und farblos und wirkte grau, fast schmutzig. Die Linien zwischen Nase und Mund hatten sich tief eingegraben. Wie immer löste sich ihr Haar aus den Nadeln, und man sah ihr jeden Tag ihres Alters an.
Hester brannte darauf, sie zu trösten, ihr irgendetwas anzubieten, was ihr hätte helfen können, aber es gab nichts. Sie kannte die schrecklichen Schmerzen, sie hatte sie selbst empfunden, als sie glaubte, Charles könnte der Mörder sein. Sie schämte sich fast für ihre Erleichterung, dass er es nicht war, egal, wie demütigend die Wahrheit auch war. Es war nicht der Zeitpunkt, die Hand auszustrecken und Callandra zu berühren, nicht einmal, nach ihrer Hand zu greifen. Hester erwog es und wollte sich schon vorbeugen, aber dann überlegte sie es sich anders. Was konnte Callandra in eine solche Geste fälschlicherweise hineininterpretieren? Hoffnung, ein falscher Akzent in Bezug auf das, was in dem Augenblick gerade gesagt wurde, selbst eine Verzweiflung, die nicht in ihrer Absicht lag.
Pendreigh rief immer noch Zeugen für Kristians Charakter auf, aber jetzt blieb ihm nur noch Fermin Thorpe. Sie hatten darüber diskutiert, ob Pendreigh ihn aufrufen sollte oder nicht. Er konnte Kristian nicht leiden, aber Pendreigh konnte Zeit mit ihm schinden, was im Augenblick ihre einzige Hoffnung war. Thorpe redete für sein Leben gerne, schwelgte im Klang seiner eigenen
Stimme. Er war ein Bewahrer, der Angst vor Verände- rungen hatte und davor, seine Macht und seine Position zu verlieren. Kristian war ein Neuerer, er forderte Thorpe heraus, hinterfragte Dinge und gefährdete seine Autorität. Es hatte bestimmte Fälle gegeben, bei denen Thorpe verloren hatte, und die lagen noch nicht lange genug zurück, als dass sie schon vergessen wären. Die Erinnerung daran und sein Groll darüber waren ihm deutlich anzusehen, als er in den Zeugenstand trat. Pendreigh wusste das; Hester und Callandra hatten dafür gesorgt, dass er sich keine falschen Vorstellungen machte. Sie hatten ihm die Geschichte sogar in allen Einzelheiten erzählt. Aber die einzige Alternative war, die Verteidigung abzuschließen, ohne dass Monk zurück war, und das war unmöglich.
Also stand Fermin Thorpe in dem hohen Zeugenstand, verzog das Gesicht zu einer angespannten, schmalen kleinen Grimasse, die ein Lächeln sein sollte, und schaute auf Pendreigh hinunter, der mitten im Saal stand. Der Richter und die Geschworenen warteten ungeduldig darauf, dass er anfing; es war Zeitverschwendung.
»Mr. Thorpe«, sagte Pendreigh vorsichtig, »damit das Gericht
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