Gefährliches Geheimnis
Raum. Wenn er ohne viel Mühe auf etwas gestoßen wäre, wäre er inzwischen längst wieder da oder hätte zumindest ein Wort von sich hören lassen. Hester hatte ein paar kurze Briefe erhalten, aber diese waren rein persönlicher Natur gewesen, dem Wunsch entsprungen, mit ihr zu sprechen, der teilweise auf dem Papier erfüllt werden konnte, und um sie wissen zu lassen, dass es ihm gut gehe und er noch auf der Suche sei. Er hatte sie gebeten, das an Callandra weiterzugeben.
Das Feuer krachte im Kamin, und die Kohlen brachen mit einem Funkenregen in sich zusammen. Es schien der einzige Glanz im Raum zu sein.
»Ja«, sagte Hester laut. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen, und ihr fiel nichts ein, das ein wenig Trost geboten hätte. »Das Dumme ist, dass wir keine Alternative haben, an die sie glauben könnten.« Noch einen Tag vorher hätte sie hinzugefügt, es müsse eine geben, heute schien das eine leere Floskel zu sein. Dann sah sie Callandra an. »Aber ich habe eine Idee, wo wir nach einer suchen können«, sagte sie, vor Mitleid schier zerrissen. Vielleicht schob sie das Unvermeidliche nur auf, aber sie konnte nicht weiter sehen als bis zu diesem Abend. Der Morgen würde bringen, was er bringen würde, und dann würde sie sich damit auseinander setzen.
»Tatsächlich?«, fragte Callandra, wollte nach dem Stroh- halm greifen, fand es aber fast unmöglich. Ihre Augen flehten darum, dass Hester es ihr nicht erzählte, sodass sie sich für eine Weile der Illusion hingeben konnte, es sei real.
Hester stand auf. Sie war verblüfft, wie müde sie war, denn sie hatte nichts weiter getan, als den ganzen Tag im Gerichtssaal zu sitzen, schmerzlich angespannt vor Hoffnung und Angst. »Ich fange morgen an, nach Beweisen dafür zu suchen, ich werde also nicht im Gericht sein. Werden Sie zurechtkommen?«
»Selbstverständlich!« Callandra stand ebenfalls auf, ihre Stimme war ein wenig höher als sonst, als seien plötzlich reale, greifbare Alternativen in Sicht. Falls Hester einen klaren Plan hatte, musste es etwas sein, was sich beweisen ließ! »Möchten Sie meine Kutsche?«, fragte sie hastig.
»Es ginge schneller.« Sie fügte nicht »und wäre billiger« hinzu, aber auch das war eine Erwägung. Sie hatte nicht daran gedacht, Hester Geld zu geben für die vielen Hansomfahrten, und wenn sie morgen auf einen warten musste, bedeutete das nur weitere Verzögerungen.
»Vielen Dank«, nahm Hester das Angebot an. »Das ist eine gute Idee.« Sie umarmte Callandra kurz und kräftig und verabschiedete sich. In Gedanken plante sie schon voraus. Sie hatte keine Zeit, über Taktiken nachzudenken, ob sie sich trügerischen Hoffnungen hingab oder ob es klug oder sicher war. Sie kannte keinen anderen Weg, der nicht zur Niederlage führte.
Sie schlief schlecht, wachte alle ein oder zwei Stunden auf, in Gedanken damit beschäftigt, wie sie vorgehen musste, um keine Fehler zu machen, wie sie Lügen umschiffen konnte, die man ihr erzählen würde. Und im Hinterkopf lauerte stets das Wissen, das sich wie eine Abenddämmerung über alles breiten würde und jedes Mal, wenn sie hinschaute, dunkler wurde: dass sie Callandra
sagen musste, dass sie versagt hatte.
Sie vermisste Monk. Manchmal vergaß sie ihn, dann wurde sie von dem Schmerz in ihrem Innern wieder daran erinnert. Er hätte gewusst, wie die Sache hier zu bewerkstelligen war; und wenn nur die geringste Chance auf Erfolg bestand, wäre er ihm sicher gewesen.
Sie stand früh auf und aß zwei Scheiben Toast. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass man, egal, wie beschäftigt der Kopf oder wie angespannt der Körper war, wenn man arbeiten wollte, auch essen musste. Zu behaupten, man sei zu aufgeregt oder zu besorgt, hieß, sich gehen zu lassen, und war äußerst unklug. Um für andere von Nutzen zu sein, musste man stark bleiben.
Dann machte sie sich mit Callandras Kutsche auf den Weg, deren Kutscher in einer geeigneten Pension um die Ecke übernachtet hatte und um halb acht fertig war und auf sie wartete. Sie bat ihn, direkt zum Polizeirevier zu fahren, wo sie sich am Empfang meldete und nach Superintendent Runcorn fragte und dem Sergeant sagte, es handle sich um eine Angelegenheit von großer Dringlichkeit. Die frühe Stunde und ihr Name reichten aus, den Mann zu beeindrucken, und er überbrachte sogleich die Nachricht. Er kam mit der Antwort zurück, wenn sie zehn Minuten warten könne, würde Mr. Runcorn sie empfangen, ob sie eine Tasse Tee möchte? Sie lehnte den Tee
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