Gefaehrliches Verlangen
so eindringlich an meinem Nagel herum, dass ein Stück abgeht.
»Von Marc?«
»Ja.«
»Er behält sie im Auge. Wir alle. Aber bestimmt wendet sich am Ende alles zum Guten.«
»Bestimmt«, bestätige ich, wenn auch keineswegs überzeugt.
»Wollen wir anfangen?«
Es ist ein seltsames Gefühl, im Haus meines Vaters mit voller Lautstärke zu singen, vor allem, da ich genau weiß, dass Dad, Rodney, Jen und Sammy direkt im Zimmer nebenan sitzen. Aber als ich meine Verlegenheit erst einmal überwunden habe, läuft es ganz hervorragend.
Am Ende der Stunde kann ich Noten singen, die ich bislang nie erreicht habe, und meine Stimme klingt klarer und reiner denn je zuvor.
Später serviert Rodney frische Scones, selbst gemachte Marmelade und Landbutter, die wir alle gemeinsam mit einem herrlichen Tee verputzen.
Wenig später sind Denise und Dad in ein Gespräch über die Musik aus den Sechzigern vertieft, schwärmen von psychedelischen Songs und schwelgen in Jugenderinnerungen, während Jen und ich mit Sammy spielen.
Zu meiner Verblüffung sehe ich Dad zum ersten Mal seit dem Weihnachtstag aufrichtig lächeln, und die beiden bringen sich allem Anschein nach gegenseitig zum Lachen.
Später fragt Dad Denise, ob sie gern zum Abendessen bleiben würde, und Denise nimmt das Angebot tatsächlich an.
»Haben Sie denn keinen Unterricht mehr?«, frage ich.
»Nein, heute nicht mehr. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich bleibe, oder? Falls doch, sagen Sie es mir bitte. Ich würde es verstehen. Ich habe zwar den Weihnachtsabend hier verbracht, aber ein Besuch eines Lehrers mitten während der Woche ist vielleicht ein bisschen sehr intim.«
Jen stößt ein schnaubendes Lachen aus. »Sie hat schon ganz andere Dinge mit einem Lehrer angestellt.«
»Jen!«
»Entschuldigung. Ist mir so herausgerutscht.«
»Außerdem betrachte ich Sie nicht nur als Lehrerin, sondern eher als Freundin, Denise.«
»Das freut mich zu hören, denn Sie sind mir mittlerweile ebenfalls ans Herz gewachsen.«
»Wie schön.« Ich habe eine Idee. »Wenn Denise hierbleibt und Jen auf Sammy aufpasst, könnte ich doch in die Stadt fahren und vor der Vorstellung noch Marcs Schwester besuchen. Bestimmt fühlt sie sich ziemlich einsam im Krankenhaus.«
Außerdem brauche ich nun, da Denise hier ist, Dad auch nicht mehr ununterbrochen Gesellschaft zu leisten , denke ich, spreche es aber nicht laut aus.
»Die Idee hinter der Trennung war, dass du dich auf dich selbst konzentrieren kannst«, wendet Dad stirnrunzelnd ein. »Und ein wenig Abstand gewinnst.«
»Aber Annabel kann doch nichts dafür, dass du mir diese Vereinbarung aufgedrängt hast. Ich finde es nicht richtig, dass sie keinen Besuch bekommen darf, nur weil du Zweifel an Marc hast.«
»Das ist auch wieder wahr. Na gut.«
»Ich bin rechtzeitig wieder hier, um das Abendessen zuzubereiten.«
»Auf keinen Fall.« Rodney stellt Tassen und Teller auf ein Tablett. »Die Küche ist, wie gesagt, ab sofort mein Revier. Sie sollen sich entspannen und sich auf die Vorstellung konzentrieren.«
»Ausnahmsweise sind Marc und ich uns in diesem Punkt einig«, bekräftigt Dad.
❧ 52
D ie Klinik sieht völlig anders aus, als ich erwartet hatte – eigentlich überhaupt nicht wie ein Krankenhaus, sondern eher wie eine Art Schloss aus rotem Backstein, mit riesigen Schornsteinen und einem parkähnlichen Garten mit vielen Tannen und einer weitläufigen Rasenfläche.
Sie befindet sich in West London, ganz in der Nähe des Krankenhauses, in das Marc mich gebracht hat, nachdem Ryan mich unter Drogen gesetzt hatte. Ich brauche geschlagene fünf Minuten für den Kiesweg bis zu dem feudalen, säulengesäumten Portal.
Hinter der schweren Holztür kommt ein lichtdurchfluteter Empfangsbereich mit einem dicken Teppich zum Vorschein, in dem ein zarter Duft nach Zitrone und Kamillentee hängt.
Annabel sitzt auf einem beigen Ledersofa neben dem Empfangstisch.
»Sophia.« Sie springt auf und wirft mir ihre mageren Arme um den Hals. »Ich freue mich ja so, dass du mich besuchst. Ich … heute ist ein wirklich mieser Tag.«
»Umso besser, dass ich hier bin. Ich habe dir Scones mitgebracht. Was ist los?«
Ich drücke ihr einen kleinen, mit einem roten Karotuch abgedeckten Weidenkorb in die Hand.
Annabel schlägt das Tuch beiseite und späht hinein. »Hast du die selbst gemacht? Die riechen ja köstlich.«
»Eigentlich wäre es meine Aufgabe gewesen, aber die sind von Rodney. Nächstes Mal backe ich etwas für
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