Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gefaehrtin Der Daemonen

Titel: Gefaehrtin Der Daemonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
Vom Netzwerk:
Chinatown.
    Byron stand ebenfalls auf. Er war größer als ich, aber fast genauso schlank. An dem Ausdruck auf seinem Gesicht erkannte ich, dass er nach mehr als nach Nahrung gierte.
    »Wie lange?«, fragte ich ihn leise. »Wie lange hast du schon so gelebt?«
    Einen Moment erwartete ich, dass er mich zurückweisen würde, doch dann holte er tief Luft. Seine Schultern entspannten sich. »Etwa sechs Monate.«
    »Und du hast niemanden?«
    »Es gab schon jemanden.« Er blickte zu Boden. »Aber er ist gestern Nacht gestorben.«
    Ich nickte stumm und machte Anstalten wegzugehen. Byron räusperte sich. Ich blieb stehen und sah zu ihm zurück. Er fummelte nervös am Reißverschluss seiner Jacke. Mir drehte sich vor Unbehagen der Magen um. »Ja?«
    Byron sah aus, als würde ihm gleich schlecht werden. »Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen.«
    Ich machte einen Schritt auf ihn zu. »Was?«
    Der Junge presste die Handwurzel gegen seine Stirn, als hätte er Schmerzen. Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern, als er antwortete. »Der Mann, der Brian erschossen hat … Er hat gemerkt, dass ich ihn beobachtete.«
    Ich hielt den Atem an. »Hat er dir etwas getan?«
    Byron nickte, und sein Gesicht schien plötzlich auseinanderzufallen. Mein Verstand beschwor Vorstellungen von etwas herauf, das ich nicht wissen wollte, und ich zuckte heftig zurück. »Er hat dich gehen lassen. Und du hast überlebt.«
    Tränen liefen ihm die Wangen herunter. »Er sagte, dass eine Frau kommen und Fragen stellen würde. Er drohte, er würde
mich töten, wenn ich etwas verriete. Und als ich heute Nacht entführt wurde …«
    Dachte ich, ich würde sterben , hörte ich ihn den Satz im Geist beenden.
    Er zitterte am ganzen Körper, und nun hatte ich das Gefühl, ich würde sterben, ein kleines bisschen. Dann nahm ich den Jungen in den Arm, behutsam. Ich war darin nicht geübt, aber er klammerte sich an mich und schluchzte heftig. Er schluchzte zu heftig, als dass diese Gefühle, die aus ihm herausbrachen, allein von Brians Tod herrühren konnten. Das konnte ich mir jedenfalls nicht vorstellen.
    Er glaubte immer noch, dass er sterben würde. Ich spürte es. Ich hatte ihm einen Aufschub verschafft, das war alles. Byron hatte Todesangst.
    Die Jungs beobachteten uns. Zee hatte eine Faust auf seine Brust gepresst. Rohw und Aaz, Dek und Mal, sie alle starrten uns an, tief in ihre eigenen Erinnerungen versunken. Das merkte ich immer, an ihren Ohren, ihren Mündern. Sie waren schlaff, abgelenkt.
    Ich hielt den Jungen fest.
    Sehr lange.

8
    A llein schaffte ich es nicht. Grant half mir, den Jungen ins Bett zu bringen, und diesmal ließ ich zu, dass er seine Flöte benutzte. Ich sah von der Tür aus zu, wie er in einem Stuhl neben dem Nachttisch saß und seine Musik spielte, seine eigene Schöpfung. Er schuf sie spontan, für Byrons Seele.
    Die Seele des Jungen klang ein bisschen wie die Feuervogel-Suite , melodisch, unheimlich und traurig. Ich konnte seine Aura nicht erkennen, ich sah immer nur die Schatten von Dämonen, aber ich spürte, wie mich Grants Macht durchströmte und bis in meine Knochen sickerte. Ich stellte mir vor, wie es sein mochte, die Farben der Seele eines Jungen neu zu arrangieren, Farben, die eine Energie reflektierten, die wiederum Gefühle repräsentierte. Ein kleiner Stoß hier, ein Schubser da. Sanft. Subtil. Heilend. Der Junge schlief, dafür hatte Grant zuerst gesorgt. Um es zu vereinfachen.
    Nach einer Weile ließ ich sie allein.
    Zee und die anderen warteten im Schlafzimmer. Sie spielten mit ihren Teddybären, deren amputierte Gliedmaßen Spuren von weißer Baumwollfüllung hinterließen. Sie summten »Living on a prayer«, als ich hereinkam. Ihre hohen Stimmen klangen wie die dämonische Version von Alvin and the Chipmunks; aber es war eine traurige Version, und als sie anfingen,
mit Scheren um sich zu werfen, zielten sie nur halbherzig auf ihre Augen. Ich sah ihnen einen Moment lang zu und trat dann über ihre neuesten Ausgaben vom Playboy, National Geographic und dem Wall Street Journal , die neben Malbüchern und halb zerkauten Malstiften lagen.
    Auf dem Weg ins Bad zog ich mich aus. Dabei ertastete ich etwas Schweres in meiner Tasche. Die Steinscheibe, die Jack mir gegeben hatte. Ein Geschenk meiner Mutter. Ich sah sie an, rieb mit der Handfläche über die glatte weiche Oberfläche und fuhr mit den Fingern die eingravierten Rillen nach, die ineinander ruhten.
    Schließlich legte ich den Stein auf den Nachttisch. Mein

Weitere Kostenlose Bücher