Gefährtin Der Finsternis
versuchte ein letztes Mal, die Worte zu lesen, aber die Bedeutung wollte sich ihr weiterhin nicht erschließen. Diese Weisheit, worin auch immer sie bestand, würde sich ihr niemals offenbaren.
Sie riss die Ecke auf dem Tisch in kleine Stücke und fühlte sich dabei wie ein Unhold. Dann griff sie nach der nächsten Schriftrolle und riss auch deren Ecke ab, und die nächste, und die nächste, riss jede einzelne dabei in Stücke. Wenn dies Simons Geheimnis war, würde er es niemals finden. Er würde niemals fortgehen.
Die Kante einer Seite schnitt ihr in die Hand und ließ sie vor Schmerz zusammenzucken. Sie ließ die Schriftrolle fallen und untersuchte den Schnitt, führte ihre Kerze näher heran. Es war ein kleiner, aber tiefer Schnitt in der Haut zwischen ihrem Daumen und der Handfläche, und Blut tropfte auf die Papierschnipsel vor ihr. »Verdammt«, murrte sie und saugte an dem Schnitt.
Dann erstarrte sie. Die zerrissenen Pergamentstücke bewegten sich, mischten sich wie Spielkarten, und ihre Blutstropfen wanden sich darüber wie winzige, lebende Wesen. Während sie zwischen Faszination und Furcht gefangen hinsah, richteten sich drei der Stücke zu einem groben Dreieck aus, die Ränder verbanden sich, so dass sich eine Einheit bildete.
Fast sicher, dass sie träumte, zerriss sie noch eine Ecke und ließ die Schnipsel auf den Stapel rieseln. Die neuen Teile vermischten sich mit den anderen und verknüpften sich erneut zu einem Ganzen. Aber die Blutstropfen waren fast fort, schrumpften, als würden sie von dem Pergament aufgesogen. Eher neugierig als übergenau, drückte sie einen weiteren Tropfen Blut aus ihrem Schnitt, und das Mischen begann erneut, die Stücke tanzten regelrecht auf dem Tisch, während sie sich wanden und neu formierten, und zwei der größeren Stücke sich zu einem groben Viereck verbanden, das fast die Größe einer der ursprünglichen Ecken hatte.
Sie nahm es hoch und betrachtete es, wobei ihre Kopfhaut zu kribbeln begann. Die Worte waren anscheinend gar keine Worte mehr. Die Buchstaben hatten sich gestreckt und gedreht, während sich das Pergament neu geformt hatte, um zu etwas zu werden, was wie der Teil eines Labyrinths aussah, Tunnel, die sich in alle Richtungen wanden und parallel zurück verliefen. »Die Katakomben«, flüsterte sie in die leere Luft hinein. Ihr Blut war gar nicht aufgesogen worden, wie sie nun sah. Es war noch immer da, ein roter Pfad, der sich durch das gewundene Labyrinth zog. »Papa … das ist eine Karte.«
Plötzlich hörte sie von draußen ein Geräusch, Hufschläge auf der Zugbrücke. Sie lief zum Fenster, umklammerte das Stück Pergament noch immer mit der Faust. Simon und Malachi kehrten zurück. Ihr Herz tat einen Sprung, und sie nahm eilig das Pergament hoch, wollte ihrer Liebe zeigen, was sie gefunden hatte. Was auch immer das für eine Zauberei war, sie musste gewiss mit seiner Suche zu tun haben. Dann hielt sie inne. Was wäre, wenn sie Recht hätte? Was wäre, wenn es eine Karte der Katakomben wäre, die ihn zu seinem Ziel führen würde? Welchen Grund hätte er dann noch, in Charmot zu bleiben?
Sie öffnete mit dem bloßen Fuß die Kiste am Fußende ihres Bettes, legte das magische Pergament hinein und schlug den Deckel zu. Sie würde es ihm zeigen, das versprach sie ihrem Gewissen, aber erst wenn sie wüsste, dass er sie liebte, dass er sie nicht verlassen würde, wenn er seine Belohnung fand. Sie würde ihm alles erzählen. Nur jetzt noch nicht.
Simon ließ Malachi im Stall zurück und ging über den Hof. Es waren nur noch wenige Stunden bis zur Dämmerung, und Isabel würde inzwischen sicher schon schlafen, aber er musste sie dennoch sehen. Er musste sicher sein, dass es ihr gut ging.
Er blieb an der Regentonne stehen und wusch sich das Blut ab, das noch auf seiner Haut verblieben war – seine Kleidung war noch immer schwarz und weitgehend unbefleckt, wie er erleichtert erkannte. Er tauchte seinen Kopf unter Wasser und wusch sich auch den Mund aus. Aber als er sich aufrichtete, spürte er ein Kribbeln im Nacken, als würde er beobachtet.
Ein großer, schwarzer Hund saß unmittelbar innerhalb der Schlosstore und sah den Vampir mit so blauen Augen an, dass sie im Mondlicht zu leuchten schienen. Eine karmesinrote Zunge hing zwischen gebogenen, elfenbeinfarbenen Zähnen aus dem Maul des Wesens, und Heimtücke ging in Wogen von ihm aus, der Gestank des reinen, geradlinigen Bösen.
Simon wünschte sich zum zweiten Mal in dieser Nacht, er hätte
Weitere Kostenlose Bücher