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Gefaelschtes Gedaechtnis

Titel: Gefaelschtes Gedaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John F. Case
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Augenzeugenaussagen beschäftigten, und auf die Arbeiten von Elizabeth Loftus und anderen verwiesen. Die Studien belegten, dass die meisten Menschen — »die Öffentlichkeit, Ärzte, Anwälte, sogar Psychiater« — zwar gern an dem Glauben festhielten, »Erinnerung« sei ein Prozess der »Rückschau«, dass die Wirklichkeit jedoch ganz anders aussähe. Tatsächlich sei »Erinnerung« die Rekonstruktion eines Ereignisses im Kopf. Auch wenn sich das, wie Shaw sagte, nach »Haarspalterei« anhörte, »könnte der Unterschied nicht grundlegender sein«.
    Entscheidend dabei war, dass derartige Rekonstruktionen unzuverlässig seien. »Die Erinnerung ist ein Romancier, kein Fotograf«, klärte Shaw das Gericht auf.
    Um diesen Punkt zu veranschaulichen, beschrieb Shaw eine Reihe von Experimenten, bei denen Studenten kurze Filme gezeigt worden waren. Anschließend hatte man ihnen irreführende Fragen zu dem; was sie gesehen hatten, gestellt. Als die Studenten etwa eine Woche später ein zweites Mal befragt wurden, hatten die meisten von ihnen diese irreführenden Fragen in ihre Erinnerungen integriert. Sie erinnerten sich jetzt an Dinge, nach denen sie gefragt worden waren, die sie aber nicht gesehen hatten.
    Der Inhalt der Erinnerungen spielte dabei keine Rolle. »Neurologisch betrachtet, ist eine Erinnerung biologisch gleich einer anderen, egal, wie richtig oder unrichtig sie ist. Eine Pseudoerinnerung ist eine Pseudoerinnerung — aber sie ist eben auch eine Erinnerung.«
    Adrienne taten langsam die Augen weh — trotz des bewölkten Himmels war das Cottage lichtdurchflutet, und das Lesen am Bildschirm anstrengend. War sie bereit, diesen Mann anzurufen? Vielleicht ja, vielleicht nein.
    Sie stand auf, reckte sich und ging zur Haustür. Als sie hinaustrat, sog sie tief die feuchte Luft und den Geruch des Meeres ein.
    Es geht alles nur um Erinnerungen, dachte sie. Um Nikkis falsche Erinnerungen und um Durans. Doctor Shaw war eine Koryphäe auf dem Gebiet, und wenn er ihr nicht helfen konnte, dann konnte es niemand. Aber würde er es tun?
    Sie atmete noch einmal tief die salzige Luft ein und ging dann zurück in die Küche. Als sie an Duran vorbeikam, fragte sie: »Möchten Sie einen Kaffee?« Er schüttelte den Kopf, ganz versunken in eine kitschige Seifenoper.
    In der Küche kochte sie sich eine Tasse Pulverkaffee und setzte sich dann wieder an den Laptop. Sie ging ins Internet und gab den Suchbegriff »Pseudoerinnerung« ein. Gleich darauf hatte sie mehrere Dutzend Dokumente, von denen die meisten irgendwie mit dem Einsatz von Hypnose zu tun hatten, um Erinnerungen an angeblichen sexuellen Missbrauch »wiederzuentdecken« — exakt das, was mit Nikki passiert war. Das Phänomen schien weit verbreitet zu sein, die Debatte hitzig. Es gab sogar organisierte Interessengemeinschaften mit gegensätzlichen Zielrichtungen: Die False Memory Foundation, die gegen wiederentdeckte Erinnerungen zu Felde zog, und die Stiftung Believe the Children, die sie untermauern wollte. Nikki, so erinnerte sie sich, hatte Letzterer Geld vermacht.
    Mittlerweile war das »Wiederentdecken« von Erinnerungen derart üblich geworden — und so umstritten —, dass der amerikanische Psychologenverband Richtlinien herausgegeben hatte. Therapeuten sollten sich erstens davor hüten, ihre Klientinnen (die Opfer waren fast immer Frauen) unbewusst dahin zu steuern, dass sie Missbrauchserlebnisse »entdeckten« — die sich in Wahrheit vielleicht nie ereignet hatten. Für den Therapeuten war die Versuchung groß, weil derartige Fantasien als bequeme Erklärungen für die emotionalen Probleme einer Klientin herhalten konnten. Für die jeweilige Klientin waren sie ebenso verführerisch, weil solche Erklärungen ihr meist eine Art Absolution von der Verantwortung für ihr gegenwärtiges Verhalten erteilten.
    Zweitens sollten Therapeuten sich darüber im Klaren sein, dass Erinnerungen, die durch Rückführung oder Hypnose wiederentdeckt worden waren, vor Gericht häufig in Zweifel gezogen wurden, falls es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kam. Da diese erinnerungsverstärkenden Techniken erwiesenermaßen die Suggestierbarkeit und das Entstehen von Pseudoerinnerungen förderten, verlangten die meisten Versicherungsgesellschaften inzwischen, dass Sitzungen dieser Art zum Schutz des Therapeuten auf Band aufgenommen wurden.
    Und gerade diese Praxis war für den Fall Brewster von entscheidender Bedeutung gewesen. So berichtete der American Lawyer :
Shaws Kommentar

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