Gefaelschtes Gedaechtnis
S ie saß seit zwanzig Minuten im Vorzimmer, als die Tür zu Shaws Büro aufging und zwei finster dreinblickende Männer in Trenchcoats herauskamen. Sie durchquerten den Raum und gingen ohne ein Wort hinaus, während Shaw mit besorgtem Blick in der offenen Tür stehen blieb.
Adrienne warf den New Yorker auf den Tisch neben der Couch, stand auf und räusperte sich.
Der Psychiater wandte sich ihr gedankenverloren zu. Einen Moment lang schien es, als würde er sie nicht erkennen. Dann riss er sich aus seiner Geistesabwesenheit und rief: »Adrienne. Meine Güte, kommen Sie herein.«
Sie folgte ihm in sein Büro und nahm vor dem Schreibtisch Platz. »Ist irgendwas nicht in. Ordnung?«, fragte sie.
Der Psychiater sah besorgt und verwirrt zugleich aus. »Ich darf diesen Besuch nicht erwähnen«, sagte er.
»Welchen Besuch?«
»Von den Männern, die eben hier waren.«
»Oh«, sagte sie, unsicher, was er meinte.
Shaw sah ihr ernst in die Augen. »Sie haben mir nicht alles erzählt, nicht wahr? Über unseren Freund.«
Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Nein«, gestand sie. »Nicht alles.«
»Weil es jetzt ... na ja., Ärger gibt.«
Sie war plötzlich bekümmert bei dem Gedanken, dass sie diesen freundlichen und großzügigen Mann in das Chaos ihrer Probleme mit hineingezogen hatte. Und in Durans. McBrides. Nikkis. »Ich dachte, je weniger Sie wissen ...«
»Die Männer wollten seine Krankenakte haben. Ich hab sie ihnen nicht gegeben.«
Adrienne dachte darüber nach. »Und wer sind die?«
Der Psychiater schüttelte den Kopf. »Sie haben gesagt, sie sind bei einer Regierungsbehörde.«
»Was für eine Behörde?«
»Das haben sie nicht gesagt.«
Adrienne verzog das Gesicht. »Na, wenn sie seine Krankenakte haben wollen, könnten sie sich einen Gerichtsbeschluss besorgen —« Dr. Shaw schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Ich denke nicht, dass die so arbeiten. Sie waren überaus nachdrücklich.«
»Oh«
Der Psychiater verdrängte die Männer so gut er konnte aus seinen Gedanken. »Sie wollten doch Mr. McBrides Geschichte unter die Lupe nehmen. Haben Sie was herausgefunden?«
Adrienne war erleichtert über die Wendung, die das Gespräch nahm, auch wenn sie nicht das Thema wechselten. »Und ob!«, sagte sie vehement. »Zunächst einmal ist er genau der, der er behauptet zu sein — nur dass er eigentlich tot ist.«
»Was?«
»Und er ist nicht verheiratet. Keine Frau, kein Kind. Keinerlei Anklagen wegen Mordes oder sonst was. Nichts von all dem ist passiert.« Sie nahm eine Kopie des Artikels über den Flugzeugabsturz aus ihrer Handtasche und schob sie über den Schreibtisch. »Auf dem Foto hat er längere Haare, aber ... man erkennt ihn genau.«
Shaw setzte seine Lesebrille auf, betrachtete das Foto, nickte und sah dann noch genauer hin. »Wieso sind Sie so sicher —«
»Ich habe mir im Internet jeden Artikel angesehen, in dem der Name McBride und San Francisco vorkommen — von 1995 bis 1997. Es waren hunderte, und ich habe nichts gefunden, das auch nur annähernd das Märchen bestätigt, das er Ihnen erzählt hat. Und wenn mir was entgangen ist, irgendwie — was nicht der Fall ist —, dann wäre der Mord bestimmt in dem Artikel über den Flugzeugabsturz erwähnt worden — falls der überhaupt passiert ist.«
Shaw lehnte sich zurück, blickte nachdenklich an die Decke. »Und wenn er unverheiratet mit seiner Freundin zusammengelebt hat? Und das Kind den Nachnamen der Mutter hatte? Und wenn er nicht verdächtigt wurde, die Morde begangen zu haben ...?«
»Doc. Bitte. Sie spekulieren ins Blaue hinein.«
Der Psychiater dachte darüber nach. »Ja, wahrscheinlich.«
Sie vereinbarten, sich am nächsten Morgen in der Klinik zu treffen. Bis dahin, so sagte Shaw, würde er das Pflegepersonal anweisen, McBride unter Aufsicht zu halten, ihm aber keine weiteren Beruhigungsmittel zu verabreichen.
Sobald Adrienne wieder im Mayflower war, zog sie sich ihre Laufschuhe an, schob einen Zehn-Dollar-Schein in den rechten Schuh und fuhr mit dem Lift in die Lobby. Jemand war dabei, die Thanksgiving-Dekoration abzunehmen. Der Pförtner, der sich die behandschuhten Hände rieb, schüttelte bewundernd den Kopf, als sie hinaus in die klirrende Kälte trat. »Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin«, sagte sie zu ihm, »schicken sie mir einen Bernhardiner hinterher.«
Über ihr rahmten die kahlen Äste alter Eichen und Platanen den Himmel ein. Pferdemist lag auf den weichen Reitwegen. Und
Weitere Kostenlose Bücher