Gefaelschtes Gedaechtnis
Befriedigung, dass der Badeschaum dick und schimmernd war und fast bis zum Rand reichte. Sie drehte das Wasser ab und tauchte einen Finger hinein - heiß, heiß, wie Marlena immer gesagt hatte.
Dann verließ sie das Badezimmer.
Aus dem Besenschrank in der Küche holte sie sich einen Hocker, ging damit ins Schlafzimmer, stieg darauf und zog ein altes Fotoalbum aus dem Versteck ganz hinten im obersten Regal. Sie stieg wieder herunter, ging mit dem Album hinaus auf den Balkon, wo sie sich vor den knisternden Kamin setzte, und schlug es auf.
Etwa hundert Fotos waren darin, jeweils mit etwas Klebstoff an den Ecken befestigt. Hauptsächlich Familienfotos, die sie selbst und Adrienne, Deck und Marlena im Verlauf von etlichen Jahren zeigten. Auf der ersten Seite war ein Bild von ihr selbst auf einer Schaukel mit fliegenden Haaren, während Marlena sie von hinten anstieß, mit einem strahlenden Lachen. Im Hintergrund ein niedriges Haus aus roten Ziegeln.
Auf derselben Seite war auch ein Schnappschuss von Adrienne, die an ihrem Seil am Baum turnte, ihr achtjähriges Gesicht ganz ernst vor Konzentration. Deck, der im Garten am Grill stand, einen Pannenwender in der einen, ein Budweiser in der anderen Hand. Nico und Adrienne am Strand, wie sie Sandburgen bauten. Adrienne, die letzte Hand an ein Lebkuchenhaus legte. Nico neben Deck sitzend, die Arme um den Kürbis gelegt, den sie ausgehöhlt hatte; und so weiter. Da war sogar ein Foto von Nico in dem Kleid, das sie zu ihrem Abschlussball getragen hatte, kurz bevor sie nach Europa ging und die Hölle losbrach.
Wenn man die Familie anhand des Albums beurteilen wollte, war sie fast vollkommen und ungefähr so gesund wie Quellwasser aus Minnesota. Aber Nico sah nicht nur die Menschen, die im Album waren, sondern auch das, was nicht darin zu sehen war. Und das, was fehlte, war der Albtraum, der sich in der Abwesenheit von Rosanna offenbarte - deren Gesicht sie sich nicht einmal mehr in Erinnerung rufen konnte.
Es gab keine Bilder von ihrer älteren Schwester, nicht eines. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Was bedeutete, dass das Album in Nicos Händen Teil der Täuschung war. Vergiss, was mit ihr passiert ist. Wenigstens sie selbst hatte überlebt. Sie hatte wenigstens eine Vergangenheit. Aber ihre Schwester, ihre Schwester existierte noch nicht einmal mehr als Erinnerung. Zuerst war sie abgeschlachtet worden und dann ausradiert — wie ein Moskauer Apparatschik, der plötzlich zum Störfaktor geworden war.
Nico nahm das Foto von sich und Marlena an der Schaukel heraus und drehte es um. Auf der Rückseite stand in der krakeligen Handschrift ihrer Pflegemutter:
Mein Schätzchen auf der Schaukel!
4. Juli 1980
Denton, Del.
Selbst das war gelogen, dachte Nico. Das niedrige Haus im Hintergrund sah ganz anders aus als das baufällige Haus mit der abblätternden Farbe, das sie in South Carolina gekannt hatte. War sie überhaupt je in Delaware gewesen? Sie glaubte es nicht.
Sie knickte das Bild in der Mitte und legte es auf das Feuer im Kamin, sah zu, wie das Papier sich wellte und die Gesichter schwarz wurden. Schließlich züngelte eine Flamme aus dem Foto, und von der Oberfläche sprangen Funken, die hinauf in den Kamin wirbelten. Eins nach dem anderen nahm Nico. die Fotos aus dem Album und legte sie ins Feuer, bis nur noch die von ihr und der noch lebenden Schwester da waren. Dann stand sie auf, blinzelte mit tränennassen Augen und murmelte vor sich hin: »Die Hex' ist tot.«
Inzwischen war es fast dunkel oder so dunkel, wie es in Washington wurde, wo die blinkenden Lichter der Flugzeuge die unzähligen, unsichtbaren Sterne vertraten. Sie holte aus der Küche einen Schneebesen, und als das Feuer nur noch glimmte, zerstampfte sie die Asche.
Anschließend ging sie ins Wohnzimmer und zog aus der obersten Schreibtischschublade einen Briefumschlag. Sie hatte ihn seit über einem Monat dort aufbewahrt und den richtigen Zeitpunkt abgewartet - und der war jetzt gekommen. Mit dem Umschlag in der Hand ging sie in die Küche und sah sich nach einem Platz um, wo er gut sichtbar wäre. Schließlich entschied sie sich für die Kühlschranktür. Sie nahm alles ab, was daran haftete - Cartoons, die Speisekarte vom Pizza-Service, ein Rezept für Hähnchen Satay und ein Foto von Jack —, und warf es in den Mülleimer. Dann befestigte sie den an Adrienne adressierten Umschlag genau in der Mitte der Tür mit einem Magneten, der aussah wie ein kleines Gin-Fläschchen. Sie sah auf die Uhr.
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