Gefaelschtes Gedaechtnis
die Fotos im Abstand von einigen Jahren entstanden waren. Und sie lächelte nicht nur—sie lachte. Sie saß auf der Hollywoodschaukel auf der Veranda des Strandhauses in Delaware, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Lippen geöffnet, blitzende weiße Zähne, Augen mit feinen Lachfältchen.
Neugierig auf seine eigenen Gefühle, ging Duran zu dem Foto, nahm es in die Hand und betrachtete das Bild genauer: das dunkle, gewellte Haar seiner Mutter, ihre fein geschwungenen Augenbrauen ... das altmodische Kleid mit dem eckigen Ausschnitt. Wie war es, fragte er sich, von ihr im Arm gehalten zu werden?
Und die Antwort, die er sich geben musste, lautete: Es war wie ... gar nichts.
Er hatte, so kam es ihm vor, eine halbe Ewigkeit auf das Foto gestarrt und auf eine emotionale Reaktion gewartet - aber da war nichts. Und das, so wusste er, war der Beweis für eine tiefe Entfremdung.
Vielleicht lag es daran, wie sie gestorben waren — so plötzlich. Ein defekter Gasofen im Cottage eines Freundes auf Nantucket. Die lautlose Ansammlung von Kohlenmonoxyd — und dann waren sie Fotos.
Es war so unerwartet gekommen wie eine Lawine, und offensichtlich war das Kapitel für ihn noch lange nicht abgeschlossen. Die Beerdigung hätte das eigentlich bewirken müssen, aber ... nein. Tatsache war, dass er sich kaum an. die Trauerfeier erinnern konnte, obwohl sie doch erst sechs oder sieben Jahre zurücklag. Und obwohl sie sich eigentlich tief in sein Gedächtnis hätte einbrennen müssen, war das genaue Gegenteil der Fall. Wenn er an die Beerdigung seiner Eltern dachte, waren die Bilder nichts sagend wie in einem Film und sparsam wie ein Drehbuch.
Außen. Regnerischer Tag. Trauergäste ...
Er konnte sich an keine wirklichen Einzelheiten erinnern. Er konnte sich nicht erinnern, wer dabei gewesen war — nur Schirme haltende >Trauergäste< im Regen. Er musste zutiefst erschüttert gewesen sein. Er musste überwältigt gewesen sein. Und doch ...
Er stellte das Foto wieder auf das Tischchen und ging in die Küche, wo das Pfeifen des Kessels in ein erschöpftes Heulen übergegangen war. Was bedeutete das, was sagte das über ihn aus, dass er sich so gut wie gar nicht an die Beerdigung seiner Eltern erinnern konnte? Und noch schlimmer: Genau genommen erinnerte er sich auch nicht an seine Eltern. Das heißt, er erinnerte sich daran, wie sie ausgesehen hatten, an Dinge, die sie gesagt hatten, und an Dinge, die sie getan hatten. Aber diese Erinnerungen waren etwa so emotionsbeladen wie Mengenlehre - und das, so wusste er, war nicht gut.
Aber was war Erinnerung überhaupt? Ein Neuronengemisch gespült in Aminosäuren.
Er nahm den Kessel vom Herd und sagte sich, dass er wirklich wieder Kontakt zu sich selbst finden musste, zu dem, der er war und gewesen war, zu dem, was er tat und was er wollte. Und wo, so dachte er, könnte er besser damit anfangen als auf einem Klassentreffen?
Als der Tag kam, war er nervös. Er hatte zwar ein Beruhigungsmittel genommen, doch er fürchtete, dass das nicht ausreichen würde. Also schluckte er noch eine rezeptfreie Schlaftablette und wartete, bis die gemeinsame Wirkung einsetzte.
Wie es der Zufall wollte, war es ein geradezu perfekter Herbstnachmittag. Am Himmel teilte ein diamantheller Kondensstreifen das Kugelschreiberblau in zwei Hälften.
Das Taxi war pünktlich. Als er auf der Rückbank Platz nahm, bemerkte er über dem Rückspiegel zwei salvadorianische Flaggen, und ohne darüber nachzudenken, sagte er dem Fahrer auf Spanisch, wo er hinwollte - eine Sprache, von der er fast vergessen hatte, dass er sie konnte. Der Fahrer lächelte ihn an und zeigte dabei zwei in Silber eingefasste Schneidezähne.
»The Friends' High School? Dahin hatte ich noch nie eine Fahrt, aber ich kenne sie — ein Stückchen nördlich von der Kathedrale. Chelsea Clinton geht auf die Schule, hab ich Recht? Anschließend will sie nach Kalifornien.«
Duran nickte. Im Radio spielte »The Buena Vista Social Club«, und er lehnte sich zurück, schloss die Augen und dachte: Es wird gut werden. Und so war es auch - obwohl Verkehrschaos herrschte, die Wisconsin Avenue war mit Lkws verstopft, Autos wendeten inmitten eines Hupkonzerts, Fußgänger standen dicht gedrängt am Straßenrand wie verschreckte Rehe - und der Fahrer schrie bei jedem Beinahezusammenstoß »Mierda!«.
Der lange Empfangstisch im Kogod Art Center wurde von einem Trio freundlicher Ehemaliger aus jeder Klasse betreut. Duran erkannte keine von ihnen wieder, aber
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