Gefahrliches Vermachtnis
mangels Alternativen im Sommer hier spielten. Als einer der beiden sie um einen Auftritt bat, drängte Gerard sie ebenfalls.
„Zeig deine Beine und schwing deine Hüften!“, lallte er. „Das kannst du doch am besten.“
Nicky zog in Betracht, ihn sitzen zu lassen und nach Hause zu gehen, aber sie besann sich eines Besseren. Es war nämlich keinesfalls sicher, dass er alleine nach Hause finden würde. Es war nicht einmal sicher, ob er den Weg dorthin überhaupt einschlagen würde. Sein alkoholvernebelter Blick sprach Bände. Die pure Herausforderung. Sie erhob sich und ging zum Klavier.
„Hey, bin froh, dass du mitmachst, Süße!“, freute sich Pancho Smith, ein alter Freund von Clarence. „Vielleicht können wir doch noch etwas Stimmung in die Bude bringen.“
„Ich bin nicht in Stimmung für Stimmung“, winkte Nicky ab und erklärte ihm, was sie vorhatte. Er wirkte zunächst unsicher. „Was ist?“, fragte sie. „Es ist kaum jemand da, der uns zuhören könnte. Sogar der Manager ist schon weg.“
Er zuckte mit den Achseln. „Dann zeig’s ihnen!“
Sie tätschelte ihm die Schulter, wandte sich um und wartete, während er das Intro spielte. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und begann zu singen.
„Don’t ever let no one man worry your mind …“
Sie ging einen Schritt nach vorne und hob die Hand, während sie den Text wiederholte. Der „Every Woman’s Blues“ war einer ihrer Lieblingssongs. Die Botschaft war zu deutlich, um sie missverstehen zu können: Eine kluge Frau zählte niemals nur auf einen Mann. Sie hatte immer noch ein paar in petto, falls sich der eine als Enttäuschung erwies – was zweifellos passieren würde. Es spielte keine Rolle, ob er klüger oder gebildeter war als sie. Ihr Kopf gehörte ihr, und sie konnte tun, was sie wollte.
Clarence hätte sie diesen Song niemals singen lassen. Er war schwermütig, sinnlich und voller Gefühl. Nicky improvisierte ein wenig, interpretierte das Lied nicht traurig, sondern frech und sexy. Aber sie lächelte nicht, sang mit betont arrogantem Gesichtsausdruck.
Sie sang, als ob sie dafür geboren wäre. Ohne einen einzigen Tanzschritt. Ohne mit der Wimper zu zucken. Der Augenblick gehörte ihrer Stimme und der Musik.
Sie sah, dass Menschen den Klub betraten und am Eingang stehen blieben. Da wusste sie, dass ihre Stimme sie angelockt hatte. Sie lächelte lasziv, als Pancho die letzten Töne spielte, und wandte sich nach ihm um. „Noch mal“, bat sie ihn. „Und dieses Mal etwas dynamischer.“
Er wusste genau, was sie wollte, und erhöhte das Tempo. Das gefiel ihr. Dann sang sie das Lied noch einmal etwas schwungvoller, aber immer noch nicht überschwänglich. Sie spielte mit den Motiven, überließ Pancho die Melodie, während sie mit Rhythmus und Harmonien improvisierte, ohne Gerard aus den Augen zu lassen.
Als sie fertig war, gab es jede Menge Applaus. Sie knickste anmutig. Dann dankte sie Pancho und dem Schlagzeuger, bevor sie an ihren Tisch zurückkehrte.
Gerard hatte einen neuen Drink bestellt. Er sah sie nicht an, aber die anderen hörten gar nicht mehr auf, von ihrem Talent zu schwärmen.
„Du hast die Stimme deiner Leute!“ Amy Trumble hatte viel zu viel Champagner getrunken, genau wie Gerard. Jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Was haben wir euch bloß angetan! Was haben wir euch bloß angetan!“
„Entschuldige, Amy, aber heute Nacht wirst du nichts mehr dagegen unternehmen können.“ Nicky zwang Gerard, sie anzusehen. Ihre Blicke trafen sich, seine Mundwinkel hingen herunter. „Hat es dir gefallen, Gerard? Ich habe nur für dich gesungen.“
Statt zu antworten, starrte er sie böse an und stürzte seinenDrink hinunter. Sie wusste nicht, womit sie ihn verärgert hatte.
Eigentlich war sie sich keiner Schuld bewusst.
„Ich fühle mich nicht gut. Ich gehe jetzt nach Hause.“ Das war nicht einmal gelogen. Sie fühlte sich wirklich nicht gut. Sie wartete schon seit Tagen auf ihre Periode, ihr Kopf schmerzte und sie verspürte eine leichte Übelkeit. „Kommst du mit, Gerard?“
Er reagierte nicht. Sie verabschiedete sich von den anderen und ging zur Tür, um sich ein Taxi zu rufen. Ein Mann, der an der Tür stand, hielt sie auf, als sie an ihm vorbeigehen wollte. „Du singst im Les Américains, stimmt’s?“ Er hatte einen netten englischen Akzent, aber das war auch das einzig Nette an ihm. Seine Statur glich der eines Boxers, und seine Wange war von einer Zickzacknarbe verunstaltet. Seine eng
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