Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
zu lassen. »Es sind nur ganz kleine Schnitte und tut überhaupt nicht weh. Nur manchmal nehmen sie …«
April berührte ihr Knie und nickte ermutigend.
»Manchmal was …?«
»Manchmal nehmen sie zu viel.«
»Wer sind ›sie‹, Ling?«
Ling sah April an, als hätte sie sie gefragt, wo die Sonne morgens aufgeht.
»Das weißt du doch.«
»Nein, weiß ich nicht«, log April. »Du meinst, jemand anderes tut dir das an?«
Ling schüttelte den Kopf und machte Anstalten aufzustehen, doch April hielt sie zurück. »Bitte, Ling, ich versuche doch nur zu verstehen. Ich habe schon von Leuten gehört, die sich selbst Schmerzen zufügen, aber …«
»Ich habe Angst, dass sie nicht mehr aufhören«, flüsterte sie. »Bei Jonathon haben sie nicht mehr damit aufgehört.«
»Jonathon?«, fragte April. »Was meinst du damit? Ich dachte, er sei nach Somerset gezogen.«
Ling stieß ein bellendes Lachen aus.
»Das solltest du glauben. Ich habe Davinas Gesicht gesehen. Am Anfang sieht es wie Liebe aus. Und du willst ihnen das Blut auch geben. Es fühlt sich so gut an, so gut. Aber nach einer Weile fängt es an wehzutun. Es ist, als könnten sie nicht mehr damit aufhören. Sie müssen sich zwingen, von dir abzulassen.«
»Aber was ist denn mit Jonathon passiert?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er am einen Tag noch da war und am nächsten wie vom Erdboden verschluckt. Und ich fürchte …«
»Du fürchtest, dass es … daran lag? Weil er ein Spender war?«
»Wer weiß.« Ling zuckte mit den Schultern. »Wenn du mich fragst, ist keiner von uns noch sicher. Layla war keine Spenderin. Sie würde nicht zulassen, dass jemand ihre Haut zerstört, nicht mal Milo, hat sie zu mir gesagt. Und am Ende wurde sie trotzdem getötet. Ich glaube, irgendetwas macht sie nervös. Mittlerweile habe ich Angst, sie könnten auf jeden losgehen, sogar auf mich.«
»Aber weshalb hätten sie Layla töten sollen?«, hakte April nach und fragte sich, ob Ling die Spekulationen der Vampire über die Furie mitbekommen haben könnte.
Ling schüttelte den Kopf. »Zuerst hat sie ja noch dazugehört, aber dann haben sie sie von einem Tag auf den anderen fallen lassen und schlimme Dinge über sie gesagt. Grässliche Dinge. Absolut widerlich. Und dann war sie plötzlich tot. Mehr weiß ich auch nicht.«
Ling schlug sich die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
»Ling«, sagte April und legte den Arm um sie. »So schlimm ist es doch nicht. Es gibt keinerlei Anlass zu glauben …«
»Doch, gibt es.« Ling hob den Kopf und sah April völlig verstört an. »Jemand hat ihnen Angst eingejagt, und jetzt flippen sie komplett aus. Sie sind hypernervös, und jeder von uns könnte der Nächste sein. Absolut jeder.«
April blieb noch lange in der Kirche sitzen, nachdem Ling gegangen war. Sie schickte Silvia eine SMS – ein neuerlicher Streit mit ihr war so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte –, dann setzte sie sich zurück und betrachtete erneut das Buntglasfenster mit dem Fuchs, der zusammengerollt zu Jesus’ Füßen lag. Dieses Fenster spiegelte in gewisser Weise ihre eigene Situation wider. Je näher sie dem Geheimnis kam, umso deutlicher wurde, dass es aus einer Vielzahl winziger Einzelteilchen bestand, die jedoch völlig verzerrt und undeutlich waren, wohingegen sie aus der Entfernung ein ganz anderes Bild ergaben. Was mit Ling passierte, war entsetzlich. Gabriel über die »Spender« reden zu hören war eine Sache. Aus seinem Mund war es Theorie; eine Verhaltensweise ohne Opfer; etwas, was Vampire tun mussten, um ihr Überleben zu gewährleisten. Doch Lings von Schnittwunden und blauen Flecken übersäte Arme und, was noch viel schlimmer war, die blanke Angst in ihren Augen zu sehen … Ling war im Grunde nur eine harmlose Streberin, die dazugehören wollte. Davina hatte einen grausamen Deal mit ihr geschlossen – durch sie hatte Ling Selbstvertrauen und Freiheit gewonnen, und sie hatte sich denen anschließen können, die sie vergötterte. Aber zu welchem Preis? Was sollte April nur tun? Wie konnte sie Ling helfen, ohne preiszugeben, dass sie genau wusste, was hier lief? Sie stand auf und trat in den Mittelgang. Und das war nicht ihr einziges Problem. Was lief zwischen ihrer Mutter und dem Falken? Sie wusste, dass Silvia durchaus egoistisch sein konnte, aber dass sie sich kurz nach dem Tod ihres Vaters mit einem anderen Mann einließ? Und dann die Sache mit Ben. Er wollte sie, daran bestand kein Zweifel. Er war nett,
Weitere Kostenlose Bücher