Gefangene der Dunkelheit
das Haus gleich mit zu zerstören. Dann würde ich jetzt nicht hier stehen, noch einmal über die Schwelle treten und in einen dieser Spiegel steigen müssen, die ich schon bei meinem ersten Besuch hier erschreckend gefunden hatte. Aber dann hätte mich der LM vermutlich zu einem anderen Haus geschickt.
Ich stieg die Stufen hinauf, stieà die Tür auf und kam in das elegante Foyer. Die Absätze meiner Stiefel klapperten auf dem schwarz-weiÃen Marmorboden. Ein glitzernder Kronleuchter, eine zweigeteilte Treppe und Plüschmöbel.
Ich wusste, dass sich das Schlafzimmer des Lord Master mit dem hohen Louis-XIV.-Bett, den Samtvorhängen, dem luxuriösen Bad und dem sagenhaften begehbaren Schrank im ersten Stock befand. Ich wusste, dass er die edelste Kleidung und sündteure Schuhe trug. Und ich wusste, dass er einen erlesenen Geschmack hatte und sich nur mit dem Besten zufriedengab â das galt auch für meine Schwester.
Es hatte keinen Sinn, das Unausweichliche aufzuschieben. AuÃerdem wollte ich das Vorhaben so schnell wie möglich hinter mich bringen, damit ich meinen Anspruch auf den Buchladen geltend machen konnte. Barrons hatte mich mit seinem Angebot überrumpelt, und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Im Moment wartete er im Buchladen auf das Foto. Seine ⦠Freunde sollten mir nachkommen. Ich betrat den langen Salon, wo ein Dutzend groÃe, mit Gold gerahmte Spiegel hingen, und durchquerte den Raum mit den Möbeln, für die sich Sothebyâs und Christieâs duelliert hätten.
Der erste Spiegel zur Rechten war komplett schwarz.
Ich fragte mich, ob er geschlossen war. Er sah tot aus. Plötzlich schwoll die dichte Schwärze an, für einen Moment fürchtete ich sogar, dass sie aus dem Goldrahmen explodieren und mich verschlingen könnte. Aber kurz davor fing sie an, laut zu pochen, und zog sich wieder zusammen. Kurz darauf schwoll sie wieder an. Zog sich zusammen. Ich schauderte. Das war ein riesiges schwarzes Herz.
Ich ging weiter. Im zweiten Spiegel sah ich ein Schlafzimmer. Im dritten eine Gefängniszelle mit Kindern. Sie streckten die knochigen, bleichen Arme durch das Gitter und blickten einem mit groÃen, flehenden Augen entgegen.
Hundert oder mehr Kinder steckten in der kleinen Zelle. Sie waren schmutzig, verletzt und trugen zerrissene Kleidung.
Dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Ich konnte mir keine Emotionen leisten. Dennoch trat ich näher und machte ein Foto, damit Barrons und ich später, nachdem meine Eltern gerettet waren, nach diesem Ort suchen und die Kinder befreien konnten. Aber gerade als ich auf den Auslöser drücken wollte, schnappte eines der Kinder nach mir. Es hatte schreckliche unmenschliche Zähne und machte mir einen Vorschlag, den kein menschliches Kind machen würde. Ich wich hastig zurück und verfluchte mich selbst, weil ich zugelassen hatte, dass mir die Gefühle den Verstand vernebelten.
Dani hatte erzählt, dass einige Unseelie Kinder einsperrten. Mit diesem fürchterlichen Gedanken im Kopf hatte ich in den Spiegel geschaut, und meine Furcht und Sorge hatten das Bild gefärbt. Hätte ich klar denken können, wären mir die Ungereimtheiten aufgefallen â die eigenartige Form der »Kinderköpfe«und die unnatürliche Grausamkeit in den kleinen Gesichtern.
Dem vierten Spiegel gönnte ich keinen Blick und ging schnurstracks auf den fünften zu. Ich stellte mich in einem Winkel zu dem Spiegel, damit der LM nicht so ohne weiteres sehen konnte, was ich tat, und machte das Foto, schickte es auf Barronsâ Mobiltelefon, dann steckte ich mein Handy in die Tasche.
Erst dann nahm ich die Szene, die sich mir bot, wahr.
Wir hatten definitiv ein Ziel.
Der Lord Master saà in meinem Wohnzimmer in Ashford, Georgia.
Er hatte meine Mutter und meinen Vater an Stühle gefesselt und geknebelt. Sie waren umringt von schwarz- und rotgekleideten Wachen.
Der LM war in meiner Heimatstadt! Was hatte er dort getrieben? Hatte er Schatten eingeschleust? Schlenderten jetzt Unseelie durch die StraÃen und ernährten sich von meinen Freunden?
Ashford war der einzige Ort, den ich unbedingt beschützen wollte, und ich hatte versagt!
Ich hatte mich von Vâlane nach Ashford bringen lassen, meiner Schwäche nachgegeben und vor unserem Haus gestanden. War das der fatale Akt gewesen, der die Aufmerksamkeit des Lord Master geweckt hatte? Oder hatte er
Weitere Kostenlose Bücher