Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
eine.
»Wir waren wie du.«
»Nur schöner.«
»Was hat er euch getan?«, fragte Aeriel wieder.
»Er trank unser Blut.«
»Nahm unsere Seelen.«
»Riss uns die Herzen aus und warf sie den Ungeheuern zum Fraß vor.«
Aeriel wandte sich von ihnen ab und tastete nach der Tür.
»Wohin willst du?«, riefen die Geisterfrauen im Chor.
»Ich …«, begann Aeriel, während sie mit der Hand den Ausgang ertastete.
»Verlass uns nicht!«
»Ich … ich muss den Garten finden.«
»Wir haben niemanden, mit dem wir sprechen können«, sagte eine.
»Ihr habt euch«, stammelte Aeriel und stieß eine dürre Mumienhand zurück, die den Saum ihres Gewandes fassen wollte, um sie aufzuhalten.
»Wir sind fast alle gleich«, seufzten die Geisterfrauen. »Miteinander sprechen bedeutet für uns, Selbstgespräche zu führen. «
»Ich … ich muss jetzt gehen«, entfuhr es Aeriel stockend. Sie raffte ihr Gewand eng an sich, damit sie dem Ziehen und Zerren der zuckenden Hände entging.
»Geh!«, hauchten sie. »Aber komm zurück.«
»Ja, ich werde zurückkommen«, hörte sie sich versprechen, alles hätte sie versprochen, und rannte los.
Der Garten lag an der Nordseite des Schlosses, über dem felsigen Abhang, und war im Laufe der Jahre stark verwildert, da niemand ihn gepflegt hatte. Silbriges Wollkraut wucherte zwischen Pflastersteinen. Auf den Wegen wuchsen Schlingpflanzen mit duftenden, nach Wein riechenden und goldgelben Blüten.
Irgendwo im Garten stand der Feuerdorn in Blüte, und daneben reifte die Zuckerstaude noch bar jeder Frucht, die sonst in süßen, kristallförmigen Dolden an den Zweigen hing.
Aeriel wanderte zwischen Blumen und Sträuchern umher, blieb mal hier, mal dort stehen, spähte durch das Blattwerk der weißen Feige, suchte zwischen den Blättern des Eulenfederkrauts nach essbaren Früchten, hielt nach Samen und Nüssen Ausschau, doch vergeblich. Und so langsam wurde ihr bewusst, dass dies ein Garten war, der mitten im Frühling in eine Art Schlaf gesunken war: Alles stand in Blüte, ohne jedoch Früchte zu tragen; nichts verwelkte oder starb.
Sie war hungrig. Der Sonnenstern hatte ein Dutzend Grade des dunklen Himmels erklommen, seit sie zum letzten Mal gegessen hatte, und noch länger war es her, seit sie ihren Durst mit Wasser stillen konnte. Der nektarschwere Blütenduft verstärkte ihren Hunger noch. Ihre Kehle war trocken. Sie fühlte sich leicht benommen.
Nur wenige Schritte entfernt erblickte sie eine Statue im Sonnenlicht, einen kleinen Mann, ungefähr drei Fuß groß. Er machte ein spöttisches Gesicht und trug einen langen, verfilzten Bart. Aeriel näherte sich der Steinfigur und lehnte sich dagegen, um kurz auszuruhen, aber die Statue war plötzlich keine Statue mehr.
Schon als der kleinste Schatten auf das Männlein fiel, blinzelte es, verzog dann den Mund und streckte sich.
»Ich danke dir für deinen lebensspendenden Schatten«, seufzte er. »Ich dachte schon, du würdest niemals … Beweg dich nicht !«, rief er, als Aeriel überrascht zurücksprang. Und bei diesen Worten sprang er ebenfalls, zu ihr, so dass er in ihrem Schatten blieb. »Nun überleg mal, Mädchen«, sprach er schnell weiter. »Selbst wenn ich wollte, ich könnte dir nichts tun. Aber ich kann dir helfen, wenn du es willst.«
»Wer bist du?«, fragte Aeriel zögernd. Sie war eher neugierig als erschrocken.
»Du kannst mich Talb nennen«, entgegnete der kleine Mann mit einer Verbeugung, bei der er stets in ihrem Schatten blieb. »Das ist nicht mein richtiger Name, aber man muss in diesen Tagen vorsichtig sein, wem man seinen Namen nennt. Und wer, darf ich fragen, bist du?«
»Mein Name ist Aeriel«, erwiderte sie. »Ich komme aus der Ebene, die zu Füßen des Terrain-Gebirges liegt.«
»So weit her?«, staunte der kleine Mann. »Nun, dann hat er dich sicher hierhergebracht, du bist doch nicht etwa eine seiner neuen Bräute, hoffe ich? Aber nein. Wie ich sehe, bist du noch nicht so ausgezehrt, und außerdem ist es zu früh dafür. Könnten wir vielleicht aus der Sonne gehen, mein Fräulein?«, fragte er mit leicht gereiztem Tonfall. »Es ist doch ziemlich anstrengend für mich, in deinem Schatten zu bleiben, wenn du ständig den Kopf neigst, damit du mich besser sehen kannst. Wie wär’s mit dem wilden Rosenstrauch dort drüben …?«
Er deutete auf ein dichtes Gewächs, und Aeriel nickte. Vorsichtig
gingen die beiden in den Schatten des buschigen Strauchs und setzten sich auf einen grasbewachsenen
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