Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
welche Art und Weise es geschehen würde. Irgendwie war ihr das Ganze irreal erschienen. Nun aber war alles Wirklichkeit geworden. Gift! Gift sollte es also sein. Das Wissen darum hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund.
Aber der Zwerg schüttelte den Kopf. »Meine Tochter«, schalt er, »der Engel der Nacht ist schon vergiftet. Dieser Trank schadet
keiner lebenden Kreatur, Wesen wie du und ich. Bei Vampiren jedoch, nun …«
»Was muss ich tun?«
»Gib ihn der Braut; sie soll ihn dem Vampir als Hochzeitstrank reichen. Tu’s, wenn du ihr aufwartest … Übrigens, wie weit bist du mit dem Spinnen?«
»Das Garn ist fertig. Bis zum späten Nachmittag werde ich auch mit dem Weben fertig sein«, sagte Aeriel und warf einen Blick auf die Apparatur. »Und der Ikarus«, sagte sie. »Ich habe ihn in letzter Zeit nicht gesehen. Wo ist er?«
Der Zwerg stand auf, wischte sich den Staub von den Händen und ging wieder zu seinen Apparaturen. »Er ist fortgeflogen«, antwortete er. »Gegen Mittag, um sich eine Braut zu suchen.« Der kleine Mann schwieg und blickte über die Schulter zu Aeriel. »Und du, meine Tochter? Wie geht es dir? Hast du noch Alpträume?«
Sie blickte zur Seite und nickte. »Ab und zu.« Seit sie zurückgekommen war, träumte sie immer vom Engel der Nacht. Seltsam. Früher, als sie ihm hörig gewesen war, hatte sie nie von ihm geträumt. Aeriel rieb sich die Arme. »Wenn der Engel der Nacht tot ist«, murmelte sie mehr zu sich als zu Talb, »werden sie mich nicht mehr quälen.« Eine Weile stand sie schweigend, mit leerem Blick da. Selbst jetzt konnte sie die Kälte nicht abschütteln. »Mir läuft es kalt den Rücken hinunter bei dem Gedanken daran, was wir vorhaben«, sagte sie.
Talb seufzte und widmete sich wieder seinen Röhrchen und Kolben. »Auch mir ist nicht wohl dabei, meine Tochter. Aber bleibt uns eine Wahl?«
Aeriel berührte die Narbe an ihrem Hals und schüttelte den Kopf. »Nein, nein!« Sie verscheuchte den Gedanken. Sollte es ihnen nicht gelingen, den Engel der Nacht zu vernichten, würde die Welt zugrunde gehen. Sie ließ die nun warmen Arme sinken und seufzte. »Nun gut, wenn der Vampir, wie du sagst, fortgeflogen ist, muss ich jetzt gehen und sie befreien.«
Der Zwerg drehte sich halb zu ihr um. »Wovon sprichst du?«, fragte er. »Wen meinst du? Die Gespensterfrauen?«
Aeriel schüttelte den Kopf. »Die Ungeheuer«, antwortete sie. »Ich habe mich entschlossen, sie zu befreien, sobald er fort ist.«
Die Brauen des kleinen Mannes zogen sich nachdenklich zusammen. »Meine Tochter, er wird darüber bei seiner Rückkehr nicht gerade erfreut sein.«
Aeriel seufzte wieder und schüttelte sich. »Das spielt keine Rolle mehr. Mir ist es gleich, ob es ihm gefällt oder nicht.« Sie war über die Kühnheit ihrer Worte überrascht, umso mehr, da sie aus tiefster Überzeugung gesprochen hatte. »Die Ungeheuer leiden. Ich werde sie befreien.«
Der Zwerg musterte sie voller Bewunderung. »Fünf Monate Wüstenleben«, sagte er sanft. »Ach, Aeriel, wie hast du dich verändert.«
12
Die Braut des Ikarus
A eriel vollendete ihre Webarbeit am späten Nachmittag: eine lange Bahn aus mattgoldenem Stoff, feiner und leichter als ein Hauch. Und dann ging sie die Turmtreppe hinauf zu den Ungeheuern. Sie hörten ihren leisen Schritt auf den Stufen, da sie kleine Jaul- und Jammertöne von sich gaben. Und als sie auf der runden Turmterrasse erschien, erhoben sich die Ungeheuer von ihren Plattformen und krochen auf sie zu, so weit es ihre Ketten erlaubten. Aeriel streichelte jedes Einzelne: klopfte ihre raue Reptilienhaut, das grobe Schuppenkleid, die Federn oder Felle.
»Lauft schnell davon!«, sagte sie zu ihnen. »Fliegt weit fort, damit er euch nicht findet, falls mein Plan misslingt.«
Dann zog sie die Metallstifte aus den Halsreifen, löste die Ketten und schenkte allen Ungeheuern die Freiheit. Jene, die fliegen konnten, erhoben sich taumelnd in die Lüfte und flogen in verschiedene Richtungen davon, schneller, als ihre skelettartigen Schwingen es vermuten ließen. Und jene, die dazu nicht in der Lage waren, sprangen vom Turm herunter und landeten, scheinbar unverletzt, auf der weiten Grasebene tief, tief unten. Mit
lauten, schrillen Freudenschreien über ihre neu gewonnene Freiheit, die wie die der Reiher, Wildpferde oder Wölfe klangen, strebten sie in alle vier Windrichtungen auseinander.
Dann stieg Aeriel wieder hinunter ins Schloss, um zu warten. Die Stunden vergingen nur
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