Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
sehen konnte, obwohl sie in ihrem Herzen ein seltsames, sanftes Ziehen spürte. »Ich habe keinen Faden gesponnen.«
»Wer einmal mit jener goldenen Spindel spinnen konnte«, sagte Marrea, »wird diese Kunst ewig beherrschen.«
Aeriel schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht. »Ich war so allein. Warum seid ihr nicht eher gekommen?«
Eoduin kniete nieder. »Wir können nur den Weg gehen, den du für uns bereitest. Und bis zu dieser Stunde hat dein Herz keinen Faden gesponnen, der lang genug gewesen wäre, noch kräftig genug, uns zu halten.«
Die Mädchen seufzten alle und spielten mit etwas. »Verzweiflung ist ein schweres, starkes Band.«
»Das nächste Mal musst du Freude spinnen, Aeriel«, sagte eine andere.
»Ja, Freude.«
»Hier ist ein Faden.«
Aeriel legte beide Hände auf ihre Brust, auf die Stelle, wo es schmerzte. Ihr Herz fühlte sich wund an.
»Hört auf damit!«, befahl Marrea plötzlich ernst. Die Mädchen unterließen sofort die sonderbaren Handbewegungen und sahen sich schuldbewusst an.
»Warum seid ihr gekommen?«, fragte Aeriel.
Marrea kniete sich wie Eoduin neben sie. »Der Himmel ist ein köstlicher Ort. Uns gefällt es dort gut. Dort ist alles licht und leicht, und wir tanzen, wann immer wir wollen.«
»Aber wir sahen dich unglücklich«, sagte eine andere.
»Hier in einem fremden Land.«
»Mit dem Sohn deines Königs.«
»Wir konnten ihn nie leiden.«
Da setzte sich Aeriel auf und ließ ihre Hände in den Schoß fallen. »Er ist nicht mehr das Wesen, das euch entführte. Er ist kein Engel der Nacht mehr.«
»Das stimmt«, sagte ein Mädchen.
»Aber noch immer flüstert die Weiße Hexe mit ihm …«
»In seinen Träumen.«
»Träume«, hauchte Aeriel. »Kennt ihr seine Träume?«
»Er träumt«, sagte Eoduin, »von einem großen Schloss aus Kristall, dem Wohnsitz der Hexe.«
»Am Ende einer Halle«, sagte ein anderes Mädchen, »sitzt die Hexe vor ihm auf einem Thron so weiß wie Salz.«
»In der Hand hält sie eine feine Silberkette, die um seine Brust geschlungen ist. ›Komm zurück zu mir, mein liebster Sohn‹, sagt sie.«
»Dann holt sie die Kette langsam ein.«
Aeriel fuhr zusammen. »Er wollte es mir nicht erzählen. Er erzählt mir nie seine Träume.«
Keines der Mädchen sprach.
»Geht er zu ihr?«, flüsterte sie. »Was geschieht in dem Traum?«
»Wir wissen es nicht«, sagte ein Mädchen.
»Er weiß es nicht.«
»Er kann es nicht wissen, Aeriel.«
»Bis …«
»Bis«, sagte Aeriel. »Bis?«
»Bis er seinen Traum zu Ende geträumt hat«, antwortete Eoduin. »Bis du ihn gewähren lässt.«
»Jedes Mal, wenn er träumt, erwacht er, oder du weckst ihn.«
»Du musst ihn seinen Träumen überlassen«, sagte Marrea.
Aeriel wandte den Kopf, senkte den Blick, versuchte, in eine andere Richtung zu blicken, aber die Mädchen umringten sie.
Wie ein fahles goldenes Feuer glommen sie schweigend und beobachteten sie. »Ich weiß «, sagte Aeriel. »Ich weiß es.«
Dann sagte sie nichts mehr. Die Mädchen schwiegen. Schließlich fragte sie: »Wohin muss ich gehen?«
»Über das Sandmeer«, antwortete Eoduin. »Dort erwartet dich eine Aufgabe.«
»Eine Aufgabe?« Aeriel schüttelte den Kopf. »Ich habe meinen Teil schon getan. Jetzt ist Irrylath an der Reihe.«
Die Mädchen schüttelten die Köpfe. Jetzt knieten alle.
»Du täuschst dich, Liebes«, sagte Eoduin. Ihre Hände ruhten noch immer auf Aeriels Knien. »Sag uns noch einmal den Vers auf, den du gelernt hast, um den Engel der Nacht zu befreien. «
Aeriel sah sie an und suchte in ihrem Gedächtnis. Sie erinnerte sich an den Zwerg, der sie den Reim gelehrt hatte. Ein kleiner Mann, nur halb so groß wie sie, mit steingrauen Augen und einem langen, gekräuselten Bart … Aeriel wandte den Blick von Eoduin. Talbs Vers fiel ihr langsam wieder ein; sie kannte seine Worte zu gut, um sie je zu vergessen.
»Durch Avarics flache Länder, darüber der dunkle Engel fliegt.
Hinan auf Terrains Gipfelränder, vom Königsturm, der abseits liegt,
Und zweimal sieben Mägdelein, als Bräute holt er sie herbei –
Ein langer Weg aus trautem Heim; vom Himmel tönt ein ferner Schrei.
Dann wird der Zauberhuf des Sternenpferds ihn unvermutet heiligsprechen,
Und eine Diamantenklinge seine kalte Brust durchstechen.
Allein dann erheben sich des Krieges Held und Schimmel,
Die Kampfgenossen alle, und beben wird der Himmel.«
Sie schwieg eine Weile und schöpfte Atem.
»Ich nahm den Bann vom Engel der Nacht, indem ich
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