Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
sich und stand auf. Aeriel sah, dass der Sonnenstern nun zu drei viertel gesunken war.
»Die Zeit drängt«, sagte Königin Syllva. »Ich muss zur Kirche. Aber später möchte ich noch mit dir sprechen, liebes Herz. Über meinen Sohn. Ich mache mir Sorgen um euch beide. Sag, willst du mit mir soupieren?«
2
Irrylath
A eriel nickte.
Die Königin ging. Wieder saß Aeriel allein in dem hohen Saal des Palastes. Die Schatten der Nacht brachen über die Stadt herein. In dem Raum war es plötzlich dunkel. Das Meer in der Ferne schimmerte im Sternenlicht; ruhelos reflektierte es sein eigenes inneres Feuer.
Kein Oceanus stand am Himmel. Dieser Planet, gleich einem blauen Fixstern, war hinter dem Rand der Welt verschwunden, ehe sie und Irrylath Isternes erreicht hatten. Sie starrte auf die Schwärze zwischen den Sternen und hatte das unheimliche Gefühl eine Aufgabe erledigen zu müssen.
Aeriel erhob sich, ließ die Laute liegen, und ging über den samtenen, steinernen Fußboden in die Halle. Dann eilte sie die langen, leeren Flure entlang bis zu der Tür, die in den Garten führte. Gewundene Pfade verloren sich zwischen grasbewachsenen Hügeln.
Aeriel stand am Rand eines Bachs; plötzlich rief jemand ihren Namen. Sie blickte auf und sah die sechs nachgeborenen Söhne der Königin unter Weidenbäumen stehen. Diese Söhne hatte sie
nach Irrylath geboren, nachdem der König von Avaric sie verstoßen hatte und sie nach Isternes zurückgekehrt war.
»Schwester!«, riefen Arat und Nar. »Aeriel!« Sie waren die beiden Ältesten, zwanzig und einundzwanzig. Sie standen in ihre langen, schwarzen und roten Gewänder gehüllt da, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
Syril und Lern, die neunzehnjährigen Zwillingsbrüder, saßen auf blassblauen und grünen Kissen. »Komm!«, riefen sie und rollten ihre mit Goldschnitt versehenen Schriftrollen auf. »Wir sind es müde, Geschichten nur zu lesen.«
Poratun, der jetzt achtzehn war, kniete daneben. »Erzähl du uns eine«, bat er sie.
»Oder wir sterben«, schloss Hadin, mit siebzehn der Jüngste. Er lag da und hatte das Kinn in die Handfläche gestützt.
Aeriel musste lächeln. Lern und Syril machten Platz, damit sie sich zwischen sie setzen konnte.
»Erzähl uns von Ravenna«, sagte Poratun.
Aeriel seufzte. Wurden die Brüder dieser Geschichte denn nie müde? Es war kaum ein Jahr her, dass sie sie selbst zum ersten Mal gehört hatte, vor wie langer Zeit die Gottgleichen die Himmel in Wagen aus Feuer durchquert hatten, um den Mond ihres Planeten zum Leben zu erwecken: Menschen, Tiere und Pflanzen zu erschaffen.
Dann waren die Gottgleichen wieder gegangen, zurück in ihre blaue Welt aus Wasser und Wolken. Nur ein paar waren geblieben und hatten sich in ihren Städten aus Kristallglas verschanzt. Von jenen war Ravenna die Letzte gewesen, die sich zurückgezogen hatte. Doch zuvor schuf sie die lons : ein großes Tier für jedes
Land: das Sternenpferd Avarclon für die weiße Ebene Avarics; den Basilik von Elver; den Greif von Terrain. Diese lons, die Wächter der Welt, hatten die Aufgabe, an Ravennas Stelle über die Länder zu wachen, bis sie irgendwann einmal wieder zurückkehren würde.
Doch dann war eine Hexe gekommen, eine Lorelei, mit Engeln der Nacht, die sie zu ihren »Söhnen« gemacht hatte. Sechs Vampire waren bereits auf der Welt, und ihnen waren sechs lons zum Opfer gefallen, bis auf den Avarclon. Sechs von Ravennas Wächtern waren verloren. Niemand wusste, wo ihre Knochen bleichten.
Aber der siebte, Avarclon, könnte eventuell zu neuem Leben wiedererweckt werden. Aeriel war ihm in der Wüste begegnet und hatte einen seiner Hufe mit nach Isternes gebracht. Das war genug. Nun versuchten die Priesterinnen der Hochkirche, das Sternenpferd zu beleben. Es würde ein ganzes Jahr dauern, sagten sie.
Aeriel erschauderte trotz der warmen Luft im Garten. Eine innere Unruhe erfüllte sie, denn sie fühlte sich nutzlos. Sie war nur ein unwissendes Mädchen ohne Zauberkräfte. Ihren Sieg über den Engel der Nacht verdankte sie dem Zufall. Nichts konnte sie mehr gegen die Weiße Hexe ausrichten. Ihr blieb nur abzuwarten.
»Ja, erzähl uns von Ravenna«, sagte Syril. »Diese Geschichte hatten wir vorher noch nie gehört.«
Aber Aeriel war immer noch unruhig. »Ich bitte euch, heute möchte ich nicht erzählen«, sagte sie. »Vielleicht ein anderes Mal. Doch warum seid ihr sechs nicht in der Kirche?« Da lachte Arat. »Wir gehen zu einem Festschmaus in der Stadt.«
Hadin
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