Gefangene des Feuers
dann fiel ihr Blick auf Traherns Gesicht. Er wirkte jetzt unendlich friedlich. Rafe streckte die Hand aus und schloss die Augen des Kopfgeldjägers.
Schockiert saß Annie draußen auf einem Felsen. Rafe hatte sie hinausgeführt und sie sanft auf den Stein gedrückt. Sie klammerte sich an die Decke, die er ihr umgelegt hatte, doch ihr schien nicht warm zu werden.
Sie hatte einen Mann getötet! Wieder und wieder ließ sie die Ereignisse in ihrem Kopf Revue passieren und kam immer zu dem gleichen Schluss: Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als zu schießen. Sie hatte keine Zeit gehabt nachzudenken. Sie hatte handeln müssen. Es war reiner Zufall gewesen, dass die Kugel ins Ziel getroffen hatte, aber das war für sie auch keine Entschuldigung. Selbst wenn sie gewusst hätte, dass ihr Schuss Trahern töten würde, hätte sie abgedrückt. Da sie zwischen Rafes und Traherns Leben entscheiden musste, blieb ihr keine Wahl. Um Rafe zu retten, hätte sie alles getan. Doch nichts von alldem änderte etwas an der Tatsache, dass sie ihren Eid verletzt hatte, das Glaubensbekenntnis der Ärzte, und obendrein ihre eigenen Werte: indem sie ein Leben genommen hatte, statt alles zu tun, um es zu retten. Dass sie sich selbst verraten hatte, lähmte sie. Und die Erkenntnis, dass sie es unter den gleichen Umständen wieder machen würde, erschütterte sie zutiefst.
Rafe packte rasch ihre Sachen zusammen. Der Boden war zu hart gefroren, um Trahern beerdigen zu können, also lag der Leichnam immer noch in der Hütte. Annie wusste, dass sie nicht mehr dort hineingehen konnte.
Inzwischen dachte Rafe über seinen nächsten Schritt nach. Jetzt hatte er zusätzlich noch Traherns Waffen und Vorräte;
sein eigenes Pferd war gut ausgeruht und genährt. Also würde er für eine Weile seine Essensvorräte nicht aufstocken müssen. Er würde Annie nach Silver Mesa zurückbringen und sich dann Richtung Süden halten und durch die Wüste von Arizona nach Mexiko reiten. Damit würde er die Kopfgeldjäger aus dem Gebiet zwar nicht aufhalten, aber zumindest würde Atwater wohl seine Spur verlieren.
Und Annie ... Nein. Er brachte es nicht übers Herz, über Annie nachzudenken. Er hatte von Anfang an gewusst, dass ihnen nicht viel Zeit bleiben würde. Er würde sie zu ihrem Haus und zu ihrer Arbeit zurückbringen und sie wieder ihrem Leben überlassen.
Aber er machte sich auch große Sorgen um sie. Seit Trailern tot war, hatte sie kein Wort mehr gesagt. Ihr regloses Gesicht war aschfahl, die Augen riesig und dunkel vor Entsetzen. Er erinnerte sich, wie er zum ersten Mal einen Mann getötet hatte, damals im Krieg. Er hatte gewürgt und gebrochen, bis seine Kehle wund war und sein Bauch ihm wehtat. Annie hatte nichts dergleichen getan, doch er hätte sich besser gefühlt, wenn sie auf diese Weise reagiert hätte.
Nachdem er die Pferde gesattelt hatte, ging er zu ihr, hockte sich vor sie hin, nahm ihre kalten Hände in seine und rieb sie, um sie zu wärmen. „Wir müssen aufbrechen, Schatz! Wir können vor Sonnenuntergang da sein, dann kannst du heute Nacht wieder in deinem eigenen Bett schlafen.“
Annie sah ihn an, als würde er wirr sprechen. „Ich kann nicht nach Silver Mesa zurück“, sagte sie. Die ersten Worte seit einer Stunde.
„Natürlich kannst du. Du musst! Du wirst dich besser fühlen, wenn du erst wieder zu Hause bist.“
„Ich habe einen Mann getötet. Man wird mich verhaften.“ Sie betonte jede einzelne Silbe.
„Nein, Liebes, hör mir zu.“ Er hatte auch schon darüber nachgedacht. Vermutlich wusste man sehr gut darüber Be-scheid, dass Trahern ihm auf der Spur gewesen war. Da Atwater ihm wohl dicht auf den Fersen war, würde es nicht lange dauern, bis Traherns Leiche gefunden wurde. „Sie werden annehmen, dass ich es war. Niemand weiß, dass du bei mir bist, also können wir alles so machen wie ursprünglich geplant.“ Doch sie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht, dass du die Schuld für etwas auf dich nimmst, für das ich verantwortlich bin.“
Ungläubig sah er sie an. „Ich verstehe nicht ganz.“
„Ich sagte, du sollst nicht für etwas verantwortlich gemacht werden, was du nicht getan hast.“
„Annie, Liebes, verstehst du denn nicht?“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich werde sowieso schon wegen Mordes gesucht! Glaubst du, dass Trahern da noch einen Unterschied macht?“
Mit festem Blick sah sie ihn an. „Ich weiß, dass man dir schon für ein anderes Verbrechen die Schuld gibt. Ich
Weitere Kostenlose Bücher