Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
Jahrzehnten in der Falle saß. Vielleicht auch, weil er alles getan hatte, um ein Leopard zu werden, auch wenn er sich nicht verwandeln konnte. Vielleicht lag es einfach nur an Ashaya. Aber in diesem Augenblick war er ganz kurz davor, die menschliche Hälfte seiner Seele zu verlieren und sich völlig der blinden Wut seiner animalischen Seite zu überlassen.
„Ich …“
„Sei still!“
Er klang so beherrscht, dass Ashaya sofort klar war, dass er versuchte, seine Wut im Zaum zu halten. Sie hatte sich fürchterlich verrechnet. Nein, korrigierte sie sich, in Wahrheit hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. Im Zusammensein mit diesem Gestaltwandler schienen sich all ihre Überlebensinstinkte und Ausflüchte in Luft aufzulösen. Bei ihm sagte sie stets die Wahrheit. Aber in den sechsundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie gelernt, dass Wahrheit ein Werkzeug war. Man sagte sie nicht einfach frei heraus. Sie musste verbogen und eingefärbt werden, bis man eine Waffe in den Händen hatte.
Nun sah sie auf Dorians festen, bloßen Rücken, angespannte Muskeln und goldene Haut, und der Überlebensinstinkt riet ihr, ihm zu gehorchen. Sie sollte schweigen und ihm die Zeit geben, seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber sie war nicht aus einem Käfig geflüchtet, um sich in einen anderen einsperren zu lassen. Und die Vorstellung eines kalten, empfindungslosen Dorian gefiel ihr nicht. Ein gefährliches Geständnis, aber es verlieh ihr den Mut, diesem Leoparden die Stirn zu bieten. „Du willst, dass ich dir die Wahrheit sage“, sagte sie und unterdrückte das sicherlich tödliche Verlangen, ihn anzufassen und zu streicheln. „Aber wenn ich es tue, befiehlst du mir zu schweigen. Heuchelei ist offensichtlich nicht nur dem Rat vorbehalten.“
Sein Kopf fuhr herum, in seinen Augen glühte der Zorn. „Nur weiter so.“
Sie hatte zwar ihr Leben im Labor verbracht, aber sie war nicht dumm. Er warf ihr den Fehdehandschuh hin. Gegen alle Regeln, die sie bisher am Leben erhalten hatten, nahm sie ihn auf. „Du fühlst dich von mir angezogen.“ Das Verlangen in seinem Kuss war wie ein Brandeisen gewesen, hatte ihr für immer ein Zeichen aufgedrückt.
Die Muskeln an seinen Unterarmen sahen hart wie Granit aus. „Eine Mediale als Spezialistin für Gefühle?“ Spott mit der eisernen Härte der Wut, die sie wie eine Peitsche traf.
„Du hast mich tief berührt“, sagte sie. „Man muss kein Spezialist auf diesem Gebiet sein, um den Grund zu erraten.“
„Meinst du, das bietet dir Sicherheit?“
„Nein.“ Sie trat einen Schritt vor. Blieb wieder stehen, denn sie hatte es nicht bewusst getan. „Ich glaube, ich bin dadurch in größerer Gefahr. Du willst nicht von mir angezogen sein, und mir ist klar …“
„Wage ja nicht, so zu tun, als hättest du etwas begriffen.“ Er drückte sich von der Balkontür ab und ging auf sie zu. In diesem Augenblick sah sie den Leoparden, nicht den Mann. Und sie erkannte die Wahrheit zu spät – er war kein Mensch, war kein Medialer, er war ein Gestaltwandler. Der Leopard lebte in seiner ganzen Persönlichkeit, in seiner Stärke, seinem Ärger, seiner Wut.
Sie versuchte zurückzuweichen. Nicht schnell genug. Er fasste ihr Kinn und hielt sie fest. „Weißt du, was mir klar ist?“, flüsterte er und stellte sich ihr in den Weg. Sie stand nicht mit dem Rücken zur Wand, aber sie konnte sich trotzdem nicht bewegen, konnte sich nicht aus seinem Griff befreien. „Mir ist klar, dass du der gleichen psychopathischen Herkunft entstammst, die mir meine Schwester genommen hat. Mir ist klar, dass du zu den Bestien gehörst, die diese Mörder schützen. Mir ist außerdem klar, dass ich aus irgendeinem Grund als Mann auf dich anspringe.“ Brutale Worte, so leise und gewählt ausgesprochen, dass sie ihr ins Fleisch schnitten. „Aber mir ist auch klar, dass ich mich nicht von meinen Hormonen leiten lassen und dich eher töten werde, als zuzulassen, dass du irgendetwas Krankes in mein Rudel bringst.“
Sie glaubte ihm aufs Wort. „Mach es aber nicht nur, weil es dich unangenehm berührt, von mir angezogen zu sein.“ Es war fast wie ein Zwang zurückzuschlagen, die Krallen auszufahren. Eigenartig, denn sie hatte ja keine Krallen.
Seine Finger griffen fester zu, und er fluchte laut. „Keine Angst, Ms. Aleine. Da Sie mir nun Ihr wahres Gesicht gezeigt haben, muss ich mir jedes Mal, wenn ich in Versuchung gerate, mich Ihnen zu nähern, nur in Erinnerung rufen, dass Sie ganz heiß auf
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