Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Staatsgefängnis in South Windham, da kommen alle Frauen hin.
Ich hab seit dem Morgen eine Menge Zeit gehabt, über diese Geschichte nachzudenken und mir das alles gründlich durch den Kopf gehen zu lassen, und heute sehe ich es folgendermaßen: Ich glaube, daß Jack bei ihr im Haus war, als sie Harrold English erschossen hat, aber das konnte er nicht sagen. Nicht, weil er Angst hatte, in die Sache reingezogen zu werden. Nein, bestimmt nicht – das ist nicht seine Art. Sondern weil er sofort begriffen hat, daß sie nur eine Chance hatte, wenn sie Notwehr geltend machte, und sie kann sich doch nicht auf Notwehr berufen, wenn er direkt neben ihr steht. Ich weiß nicht genau, wie es war – vielleicht hat er versucht, ihr die Waffe wegzunehmen. Und Mary, die wollte nicht sagen, daß er da war, weil sie ihn raushalten wollte. So ähnlich wie in dieser wunderbaren alten Kurzgeschichte »Das Geschenk der Weisen«. Haben Sie die mal gelesen? O. Henry hat sie geschrieben. Das sind Geschichten, die ich mag. Na ja, ganz genau so war’s nicht, aber die Gefühle waren die gleichen.
Kurz und gut, beim Prozeß haben die Geschworenen das alles natürlich ziemlich verwirrend gefunden. Der Verteidiger, Sam Cotton, hier aus der Gegend, von Beals Island, hat so argumentiert: Mary hat ihren Mann im Schlaf erschossen – sie sind davon ausgegangen, daß es so passiert ist, obwohl Mary gesagt hat, er wär wach gewesen, als sie auf ihn gezielt hat –, aber sie hätte es in Notwehr getan, weil sie überzeugt war, daß er sie früher oder später an diesem Tag oder in dieser Nacht umbringen würde.
Heikel, das.
Dieses »früher oder später« war genau das Problem.
Der Staatsanwalt – Pickering – hat argumentiert, Mary hätte genug Zeit gehabt, um die Polizei zu rufen – mich in dem Fall – und Harrold English wegen tätlichen Angriffs verhaften zu lassen. Aber Mary wäre eben nicht den Hügel hinauf zu den LeBlancs gelaufen, wo es ein Telefon gegeben hätte, sie wäre runter zu Jacks Boot gelaufen, hätte die Pistole geholt, wär zurückgekommen und hätte ihren Mann kaltblütig erschossen.
Mary hat immer wieder drauf hingewiesen, daß ihr Mann sie vergewaltigt und bewußtlos geschlagen hat, aber das Problem ist, daß es in Maine, und vielleicht auch anderswo, Vergewaltigung in der Ehe nicht gibt. Der Staatsanwalt ist überhaupt nicht drauf eingegangen. Er hat den k.o.-Schlag praktisch genauso vom Tisch gefegt wie die Vergewaltigung.
Und dann war da noch die Geschichte mit der Gabel.
Ziemlich unglückselige Geschichte. Ich mein, was kann man denn mit einer Gabel schon groß anrichten? Pickering jedenfalls hat die Geschichte in der Luft zerrissen und sogar bei den Geschworenen noch ein paar Lacher geerntet, wenn ich mich recht erinnere.
Sie sehen also, Mary Amesbury hat sich selber nur geschadet. Daß ich und Julia und Muriel ausgesagt haben, wie geschunden sie am ersten Tag ausgeschaut hat, als sie ins Dorf kam, hat nicht gereicht. Schon gar nicht, da ja Willis Beale dann ausgesagt hat, Mary selbst hätte ihm erzählt, daß sie die Blutergüsse von einem Autounfall hatte. Zu allem Überfluß haben sie dann Julia noch mal aufgerufen, und sie mußte zugeben, daß Mary ihr das gleiche erzählt hatte. Das war natürlich sehr nachteilig, besonders im Licht der Tatsache, daß Sam Cotton nicht einen einzigen Zeugen aus New York beibringen konnte, der bestätigt hätte, daß zwischen Harrold English und seiner Frau etwas nicht stimmte, oder daß ihm irgendwann mal Verletzungen an Mary aufgefallen waren.
Tja, so war das. Und ich denke, die Geschworenen waren damit ganz einfach überfordert – sie konnten sich nicht auf einen Spruch einigen. Es hat ungefähr halbe halbe gestanden, soviel ich weiß.
Nach dem Prozeß hat der Richter den Geschworenen gedankt und hat sie entlassen, und Sam Cotton hat sofort die Einstellung des Verfahrens beantragt. Aber daraufhin ist Pickering aufgesprungen wie von der Tarantel gestochen und hat gesagt, es würde auf jeden Fall einen neuen Prozeß geben, und er hat auch gleich einen Termin verlangt.
Und vor ungefähr zehn Tagen dann muß Sam erfahren haben, daß der neue Prozeß von Joe Geary geleitet werden soll, der allgemein dafür bekannt ist, daß er für Frauen eine Schwäche hat. Er gibt ihnen immer milde Strafen, wissen Sie. Daraufhin hat Sam beschlossen, auf Marys Recht auf einen Geschworenenprozeß zu verzichten – ich vermute, er dachte, sie würde mit Geary allein besser fahren – und
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