Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Mann, der stetig trank, völlig berauscht eingeschlafen war, und machte sich dann auf den Weg zum Ende des Kaps. Von dort ruderte sie zu einem grün-weißen Hummerkutter hinaus, der im Kanal vor Anker lag, und nahm die Pistole an sich, die, wie sie wußte, auf dem Boot verwahrt wurde. Danach kehrte sie zum Haus zurück und tötete ihren Mann in ihrer Angst, daß er sie umbringen würde, sobald er zu sich käme, mit zwei Schüssen, von denen einer die Schulter traf, der andere die Brust.
Cotton behauptet, sie habe in Notwehr gehandelt. Mary Amesbury behauptet das gleiche. »Ich mußte es tun«, sagt sie. »Ich hatte keine Wahl.«
Beim ersten Prozeß im vergangenen Juni hatten sich die Geschworenen nicht auf einen Spruch einigen können. Sieben von ihnen sprachen sich für einen Freispruch aus, fünf für einen Schuldspruch. Cotton beantragte sofort die Einstellung des Verfahrens. D. W. Pickering jedoch, der Staatsanwalt, forderte einen neuen Prozeßtermin im September. Völlig überraschend gab Cotton Anfang Juli bekannt, daß seine Mandantin auf ihr Recht auf einen Geschworenenprozeß verzichte. Cotton hat keinen Kommentar zu dieser Strategie gegeben, aus gutunterrichteten Kreisen wird jedoch angedeutet, der Grund sei Richter Gearys Ruf, weiblichen Angeklagten gegenüber Milde walten zu lassen.
Im Verlauf der beiden Prozesse präsentierte Cotton seine Mandantin als eine moderne Hester Prynne, die uns als Heldin des Romans von Nathaniel Hawthorne »Der scharlachrote Buchstabe« bekannt ist. Beide, sagte Cotton, seien Frauen, denen Unrecht getan worden ist, romantische Gestalten, die in stiller Zurückgezogenheit am Meer lebten und denen das Wohl ihrer Töchter über alles ging. Beide Frauen seien von der Gesellschaft ausgestoßen und durch ihre Liebe dazu verurteilt worden, auf der Brust den scharlachroten Buchstaben ›A‹ zu tragen, das Stigma ihrer Schande. Nun stehe im Fall Amesbury dieses Stigma nicht für Ehebruch, sondern für »geschlagene Frau«.
Aus Mary Amesburys eigenen Berichten allerdings gewinnt man den Eindruck, daß sie denn doch eine etwas komplexere Persönlichkeit ist, als einzig eine Frau, der Unrecht getan worden ist. Und ihre Geschichte wirft manche Frage auf, auf die sie eine befriedigende Antwort schuldig bleibt.
Um von ihrem Mann nicht gefunden zu werden, nahm Maureen English bei ihrer Ankunft in St. Hilaire den Namen Mary Amesbury an. In beiden Verhandlungen lehnte sie es ab, Fragen zu beantworten, wenn sie als Maureen English angesprochen wurde. Der Staatsanwalt löste das Problem, indem er sie »Mrs. English beziehungsweise Mary Amesbury« nannte. Cotton vermied es geschickt, überhaupt einen Namen zu nennen, wenn er das Wort an sie richtete.
Ich habe diesen Sommer im Verlauf von sieben Wochen eine Reihe von Exklusivinterviews mit Mrs. English geführt, während sie auf ihren zweiten Prozeß wartete. Trotz aller Spannung und Ängste, die sie unverkennbar plagten, war Mrs. English häufig durchaus gesprächig. Sie war manchmal traurig und gelegentlich zornig, aber sie war immer freimütig, schien manchmal sogar den Aussagen, die sie vor Gericht abgegeben hatte, zu widersprechen. Eines dieser Interviews wurde persönlich geführt, die übrigen schriftlich.
Da in Machias eine angemessene Unterbringung weiblicher Strafgefangener über längere Zeit nicht möglich ist, wurde Mrs. English ins Staatsgefängnis in South Windham überstellt. Als sie mir dort im Besuchsraum gegenübersaß, wirkte sie älter als sechsundzwanzig. Sie war sehr blaß, mit Falten um die Augen und auf der Stirn. Das rote Haar, mit das Auffallendste an ihr, hatte man ihr kurz geschnitten, und oberhalb des linken Auges war es von einer dünnen grauen Strähne durchzogen. Ihr Körper unter dem grauen Anstaltsanzug war angespannt und verkrampft. Beim Sprechen zwirbelte sie oft nervös eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. Leute, die Maureen English noch vor weniger als einem Jahr gesehen haben, meinen, sie sei kaum wiederzuerkennen.
Ich war Mrs. English vor unserem Gespräch im Gefängnis nur einmal begegnet – bei einem Fest in den Redaktionsräumen dieser Zeitschrift in Manhattan. Sie war früher einmal bei der Zeitschrift tätig gewesen, hatte aber vor Beginn meiner Mitarbeit aufgehört. Auf dem Fest trug sie ein schwarzes Samtkleid und machte ihre ehemaligen Kollegen strahlend mit ihrem kleinen Töchterchen Caroline bekannt. Auf mich wirkte sie an diesem Abend wie eine glückliche Frau, gut situiert
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