Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
sie gewaltsam zurück. Ich wartete darauf, daß endlich das Zittern aufhören würde. Solange er existiert, habe ich kein Leben, dachte ich.
Ich nahm die Pistole und wog sie auf meiner Hand. Das Gewicht, vielleicht auch das kalte Metall, wirkte beruhigend. Ich stand auf und ging zum Sofa. In meinen Ohren war ein hohes Fiepen. Ich hob den Arm und richtete die Pistole auf Harrold. Zielt man besser auf das Herz oder auf den Kopf? dachte ich.
Hinter mir hörte ich einen heiseren, flüsternd hervorgestoßenen Ausruf und ein entsetztes Nach-Luft-Schnappen. Vielleicht war die Reihenfolge auch umgekehrt. Ich drehte mich herum und sah Jack. Er hatte seinen gelben Ölmantel und die Gummistiefel an. Er war zur gewohnten Zeit gekommen. Unser letzter gemeinsamer Morgen. Und ich stand hier mit der Pistole in der Hand. Sein Blick flog zu mir, dann zu Harrold, dann wieder zu mir. Ich muß ihm wie ein Seeungeheuer erschienen sein, ein schlammtriefendes Monster aus der Tiefe mit einem unbegreiflichen Gegenstand in der Hand.
Aber er begriff sehr schnell. Er kam auf mich zu.
»Was zum …?« begann er.
Harrold rührte sich.
Wenn er lebt, bleibt mir kein Leben, dachte ich.
Ich zielte auf Harrolds Herz. Jacks Hand war nur Zentimeter von meinem Arm entfernt. Ich drückte ab. Harrold griff sich an die Schulter und kippte nach vorn.
Mit einem Aufschrei wandte Jack sich Harrold zu. Harrold schlug die Augen auf, schaute, verstand, verstand nicht.
»Maureen …«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht Maureen«, sagte ich.
Und feuerte noch einmal.
Oder vielleicht habe ich zuerst geschossen und dann gesagt, ich sei nicht Maureen.
Ich senkte die Hand.
Ich stand wie gelähmt, wie angewurzelt.
Dann hörte ich einen merkwürdigen langgezogenen Laut. Er begann ganz leise und schwoll dann an. Ich sah zu Carolines Zimmertür hinüber, aber von dort kam der Laut nicht.
Ich blickte zum Sofa, aber auch von dort kam der Laut nicht. Harrold war vornüber auf die Knie gestürzt, und ich war sicher, daß er tot war.
Ich sah Jack an, als könnte er mir sagen, was es mit diesem Laut auf sich hatte, aber das schien nicht der Fall zu sein. Ich sah, daß er nicht aus seinem Mund kam. Er starrte mich an und rief meinen Namen. Er hatte seinen gelben Ölmantel an. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt, er hatte tiefe Furchen zu beiden Seiten seines Mundes, und er rief meinen Namen. Ich erinnere mich, daß er mir die geöffneten Hände entgegenstreckte, als läge etwas auf ihnen, das er mir zeigen wollte.
Der Laut wurde zur Klage.
Ich sah zum Fenster hinaus zum Ende des Kaps. Ich sah das grün-weiße Hummerboot im Wasser schaukeln. Über dem Horizont hing der Dunst des neuen Tages.
Plötzlich mußte ich an die Frau im Krankenhaus denken, die Frau im Kreißsaal, die Wand an Wand mit mir gelegen hatte.
Die Klage wurde zu einem Heulen.
Und da begann, glaube ich, Caroline zu weinen.
15. Januar – Sommer 1971
Everett Shedd
Als ich hinkam – Herr im Himmel, das war ein erschütternder Anblick. Ich hoffe, ich muß nie wieder so was Trauriges sehen, weiß Gott nicht.
Mary hat auf dem Boden gehockt und einen Mann in den Armen gehalten. Jack hat das Kind im Wohnzimmer rumgetragen. Alles war voller Blut – die Couch, der Boden, die Wand hinter der Couch. Und Mary Amesbury auch.
Mein Gott, Mary! Sie hätten Ihren Augen nicht getraut, wenn Sie sie gesehen hätten. Sie hatte Mantel und Stiefel an und war von oben bis unten voller Schlamm – vom Niedrigwasser. Ihr Gesicht war schwarz, ihre Haare – alles. Und das dann mit dem Blut vermischt …
Sie hatte die Augen zu und hat sie auch nicht aufgemacht. Sie hat diesen Mann in den Armen gehalten – jetzt weiß ich natürlich, daß es ihr Mann war, Harrold English, aber damals hatte ich keine Ahnung – und ihn hin und her gewiegt und dabei die ganze Zeit vor sich hin gesummt. Wissen Sie, das, was man zuerst in diesem Zimmer gespürt hat, war der Schmerz, nicht der Schrecken und das Entsetzen. Es war eher so, als hätte sich da was Tieftrauriges niedergelassen.
Ich bin dann raus zum Wagen und hab über Funk in Machias einen Streifenwagen und einen Rettungswagen angefordert, obwohl ich wußte, daß der Mann im Haus tot war. Und dann bin ich wieder reingegangen.
Jack war weiß wie die Wand. Aber er hat das Kind nicht aus den Armen gelassen und versucht, es zu beruhigen, weil es so geweint hat. Und immer wieder hat er Mary angeschaut, bis ich dann gesagt hab: »Jack, was ist hier
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