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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Mond hinter den Wolken hervor, nur ein, zwei Sekunden lang, aber ich konnte deutlich die Spitze des Kaps sehen, das Ruderboot, den Kutter. Voll Zuversicht machte ich einen Schritt nach vorn.
    Der Boden brach unter mir weg wie eine Bühnenfalltür. Mein Bein versank bis zum Knie. Ich stürzte in den Sand, als hätte mir jemand den Fuß unter dem Körper weggerissen. Als ich hastig die Arme ausstreckte, um den Sturz abzufangen, tauchten sie in einen riesigen Leimtopf.
    Genauso fühlte es sich in der Dunkelheit an – wie zäher Leim. Ich schaffte es nicht, meine Arme aus dem klebrigen Zeug herauszuziehen. Ich fand nirgends einen Halt. Der Leimtopf schien bodenlos zu sein. Mein Bein rutschte immer tiefer, und meine Hände fanden kein Stückchen festen Boden.
    Meine Gedanken rasten. Honigpott, dachte ich. Willis. Caroline. Das darf doch nicht wahr sein. Caroline. O Gott, Caroline.
    Leg dich flach, sagte ich mir. Hatte ich das als Kind in einer Geschichte gelesen, wo jemand in Treibsand geraten war? Ich versuchte, mich auszustrecken und ganz still zu liegen. Nichts geschah. Ich sank nicht tiefer. Es war also gescheiter, wenn ich nicht strampelte und herumzappelte. Unter meiner Schulter und dem freien Knie spürte ich harte Stellen. Auf sie gestützt, wälzte ich mich langsam und vorsichtig herum, aus dem Morast hinaus. Er saß überall, in meinem Haar, in meinem Ohr, unter meinem Kragen. Ganz in meiner Nähe hörte ich eine Welle den Sand hinaufkriechen. Ein kleiner Krebs oder irgendein anderes Tier krabbelte über mein Gesicht. Ich schnaubte und versuchte, es wegzupusten. Vorsichtig wälzte ich mich weiter und begann zu ziehen. Ein Arm kam frei, dann der andere.
    Zentimeter um Zentimeter robbte ich zurück auf festeren Boden. Mit dem eingesunkenen Bein hatte ich mehr Mühe als vorher mit dem Arm. Mein Knie war abgebogen, und der Schlamm lag schwer auf dem Bein. Wenn ich um Hilfe riefe, würde wahrscheinlich einzig Harrold mich hören.
    Mir begann kalt zu werden. Der Schlamm war durchtränkt von eisigem Salzwasser, das bereits meinen Wollmantel und meinen Pulli durchnäßt hatte. Ich dachte, wenn ich noch länger hier liegenbleibe, sterbe ich an Unterkühlung, und das darf nicht geschehen, weil ich Caroline nicht im Stich lassen kann.
    Ich biß die Zähne zusammen und stöhnte laut vor Anstrengung.
    Dann sagte ich laut und deutlich: »Gottverdammte Scheiße«, und dabei war mir völlig egal, ob Harrold mich hörte.
    Mit einer Kraftanstrengung riß ich mein Bein aus dem Schlamm.
    Und dann wälzte ich mich weg, immer weiter weg von dem Honigpott.
    Der Mond kam hinter der Wolkenbank hervor. Ich konnte sehen, wohin ich gehen mußte. Ich rappelte mich auf und rannte stolpernd los. Ich rannte zum Ruderboot.
    Der Rest war vergleichsweise ein Kinderspiel. Ich schob den Kahn ins Wasser und sprang hinein. Ich legte mich vorn in den Bug und paddelte mit den Händen. Das Wasser biß, es war eiskalt.
    Ich machte das Boot fest, hievte mich über den Bug des Kutters und ließ mich ins Cockpit fallen. Ich öffnete die Tür zur Kabine. Erst da dachte ich daran, daß sie abgesperrt hätte sein können. Einen Moment stockte mir der Atem. Wenn ich diesen ganzen gräßlichen Kampf mit dem Schlamm nur durchgemacht hätte, um die Schottür dann verschlossen zu finden! Aber sie war offen.
    Ich fand das ungeheuer ermutigend, als wäre es ein Zeichen dafür, daß ich das Rechte tat.
    Ich ertastete den Spind und kramte im Dunkeln darin herum, bis ich gefunden hatte, was ich suchte.
    Als ich ins Haus zurückkam, lag Harrold auf dem Sofa wie zuvor. Ich hätte schnurstracks auf ihn zugehen und schießen sollen.
    Aber statt dessen setzte ich mich mit der Pistole in der Hand an den Küchentisch. Meine Hände zitterten so stark, daß ich fürchtete, mich selbst anzuschießen. Ich legte die Waffe auf den Tisch. Ich konnte nicht aufhören zu zittern. Plötzliche Übelkeit überkam mich. Ich sprang auf und übergab mich ins Spülbecken, versuchte, die Würgelaute zu unterdrücken. Ich wischte mir den Mund ab und sah mich im Fenster über der Spüle gespiegelt. Gesicht, Mantel und Haare waren schlammschwarz. Es sah aus, als hätte ich eine Maske auf, wäre überhaupt nicht ich selbst. Und ich roch wie die Ebbe.
    Ich ging an den Tisch zurück und setzte mich wieder. Ich fand es erstaunlich, daß Harrold nicht wach geworden war, als ich mich übergeben hatte.
    Ich bemühte mich, tief zu atmen und ruhiger zu werden. Neue Übelkeit stieg in mir auf, ich drängte

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