Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
dem Kap denke, bin ich vor allem … traurig. Ich bin traurig wegen Mary und Jack und traurig wegen Rebecca, und im Augenblick bin ich vor allem wegen der beiden Kinder traurig, Emily und der Kleinen, für die ich jetzt sorge. Die beiden tun mir in der Seele leid.
Hören Sie? Das ist die Kleine. Es überrascht mich jedesmal wieder. Das sind fremde Töne in diesem Haus. Aber schön. Mein Mann und ich hatten keine Kinder, ich habe das immer bedauert. Die Kleine bleibt nur so lange bei mir, bis Mary entlassen wird.
Möchten Sie sie sehen? Ich habe ein Foto von ihm gesehen. Sie sieht aus wie ihr Vater.
Der Artikel
Die tödlichen Schüsse drüben auf dem Kap von Helen Scofield
Sam Cotton schien tief in Gedanken zu sein. Und ihm schien unangenehm warm zu sein in seinem korrekten blauen Anzug und den blankpolierten schwarzen Schuhen, denen der Sand gar nicht gut tat. Es war an diesem Septembernachmittag draußen in Flat Point Bar ungewöhnlich warm, und in St. Hilaire, diesem kleinen Küstendorf in Maine, ungefähr hundert Kilometer nördlich von Bar Harbor, war man sich einig, daß die Temperatur noch vor dem Abend auf dreißig Grad ansteigen würde.
Cotton schob einen Finger unter seinen Kragen, tupfte sich dann den kahlen Scheitel mit einem Taschentuch. Er war auf dem Weg zum Ende der Landzunge, auch »das Kap« genannt, um sich das grün-weiße Hummerboot, das im Kanal vor Anker lag, genauer ansehen zu können. Als er seine Musterung abgeschlossen hatte, kehrte er zum anderen Ende dieser kleinen Halbinsel zurück, die spitz in den Atlantik vorstößt. Dort machte er neben seinem Wagen unterhalb eines bescheidenen weißen Häuschens halt, das auf die Landzunge und das Wasser hinunterblickt. Ab und zu winkte er einem Fischer zu, der in seinem Boot an Land zurückkehrte, aber er sprach mit niemandem. Der ganze Rundgang, die Zeit, die er mit der Betrachtung des Bootes und des Hauses verbrachte, eingeschlossen, nahm vielleicht zwanzig Minuten in Anspruch.
Strafverteidiger Sam Cotton, siebenundfünfzig Jahre alt, ist seit nahezu dreißig Jahren in Ost-Maine als Anwalt für Strafsachen tätig. Aber sein derzeitiger Fall, der am Landgericht in Machias anhängig ist, wird vielleicht sein schwierigster werden. Er ist zweifellos der berühmteste.
Wenn die Leute hier von ihm sprechen, sagen sie »diese furchtbare Geschichte drüben in Julias Haus«, oder »diese schreckliche Geschichte mit Mary Amesbury«, oder »die Schießerei drüben auf dem Kap«. Sam Cotton muß beweisen, daß seine Mandantin, eine sechsundzwanzigjährige Frau, die angeklagt ist, im vergangenen Januar in dem kleinen weißen Haus, das Cotton sich so eingehend angesehen hat, ihren Mann ermordet zu haben, unschuldig ist. Und ihm bleibt nicht viel Zeit. Schon in der nächsten Woche, bei Beendigung des zweiten Prozesses gegen eine Frau, die unter den Namen Maureen English und Mary Amesbury bekannt ist, wird das Urteil des Richters Joseph Geary erwartet.
Nach Cottons Darstellung sind die nackten Tatsachen des Falls folgende:
Nach zwei Jahren der Mißhandlung durch ihren unberechenbaren, alkoholabhängigen Ehemann – darunter wiederholte Vergewaltigung und Gewaltanwendung selbst während ihrer Schwangerschaft – floh Maureen English zusammen mit ihrer knapp sieben Monate alten Tochter Caroline am 3. Dezember vergangenen Jahres aus ihrer Wohnung in New York und fuhr mit dem Auto mehr als achthundert Kilometer weit nach Norden, um in dem kleinen Fischerdorf St. Hilaire Zuflucht zu suchen. Dort mietete sie unter dem Namen Mary Amesbury das kleine weiße Haus in Flat Point Bar, um dort in aller Zurückgezogenheit für ihre kleine Tochter zu sorgen und sich von ihren körperlichen und seelischen Verletzungen zu erholen.
In den frühen Morgenstunden des 15. Januar, nachdem sie sechs Wochen lang in Verborgenheit gelebt hatte, wurde Mary Amesbury vom plötzlichen Erscheinen ihres Mannes in ihrem Schlafzimmer überrascht und erschreckt. Harrold English, einunddreißig Jahre alt, angesehener Journalist bei dieser Zeitschrift, war nach Maine gekommen, um seine Frau zur Rede zu stellen. Den Hinweis auf ihren Aufenthaltsort hatte er von einem Arzt bekommen, den Mary Amesbury aufgesucht hatte.
Irgendwann in diesen frühen Morgenstunden griff English seine Frau mit einem scharfen Gegenstand an, vergewaltigte sie und versetzte ihr einen so brutalen Schlag auf den Kopf, daß sie das Bewußtsein verlor.
Mary Amesbury, die ihr Leben in Gefahr sah, wartete, bis ihr
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