Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Erzählen einer Geschichte oder einer Anekdote die Zeit vergaß, noch einmal hundert wurden, war uns zu einem Ritual geworden, an dem wir auch noch festhielten, als ich längst alt genug war, mir das Haar selbst zu bürsten.
Nachdem sie mich ins Bett gepackt hatte, setzte sie sich ins Wohnzimmer aufs Sofa, um zu nähen oder fernzusehen oder Radio zu hören. Manchmal las sie auch, aber häufig, wenn ich aufstand, um mir ein Glas Wasser zu holen oder ihr zu sagen, daß ich nicht schlafen konnte, sah ich sie mit Buch oder Nähzeug im Schoß dasitzen und ins Leere starren. Ich weiß nicht, wovon sie träumte.
Wenn meine Mutter ihren langen Mantel und ihren Hut abgelegt und ihr Kostüm mit einem bequemeren Kleidungsstück getauscht hatte, fand ich sie schön – auf das Traurige daran werde ich hier nicht eingehen, denn in meiner Kindheit fand ich das nicht traurig, das geht mir erst jetzt so. Vielleicht finden alle Töchter ihre Mütter schön. Ich weiß es nicht. Das Besondere an ihr war ihr Haar, die Farbe ihrer Augen, ein lichtes Grün, das ich nicht geerbt habe, und ein Teint, der ihr auch, als sie älter wurde, erhalten blieb. Am schönsten fand ich sie immer, wenn sie an einem schwülen Abend draußen auf der kleinen, von einem Fliegengitter geschützten Hinterveranda auf einem Aluminiumstuhl mit Plastiksitz von der Hausarbeit rastete. Meist hatte sie ein leichtes Strandkleid an, und ihre Haut war ein wenig feucht von der Hitze. Das Haar, das sich aus den Nadeln gelöst hatte, fiel ihr unordentlich, aber voll und üppig auf die Schultern, und sie lächelte vielleicht über eine pikante kleine Klatschgeschichte über unsere Nachbarin, die ich ihr erzählte, während wir eine Zitronenlimonade tranken. Ich wußte, daß meine Mutter es gern hörte, wenn ich über unsere Nachbarin klatschte. Das stillte ihre Eifersucht, die Angst, eine andere könnte ihrem Kind zur Mutter geworden sein.
Für unsere Nachbarin war ich eine Plage, mit voller Absicht, denke ich heute, und die Frau, die Hazel hieß und selbst drei aufmüpfige Kinder hatte, mochte mich nicht besonders. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, aber vielleicht war es auch einfach so, daß ich etwas dagegen hatte, meine Kindheit in einem fremden Haus zu verleben. Sobald ich alt genug war, bat ich meine Mutter, nach der Schule bei uns zu Hause bleiben zu dürfen, und sie erlaubte es mir im Vertrauen darauf, daß ich nicht trinken oder rauchen oder die gleichen Dummheiten machen würde wie die anderen Mädchen in meinem Alter. Natürlich begann ich mit der Zeit genauso über die Stränge zu schlagen wie meine Freunde – ich rauchte, ich trank ab und zu Bier –, aber sie irrte in ihrer Befürchtung, daß diese im Grunde harmlosen Vergnügungen mir zum Verhängnis werden würden.
Manchmal lud meine Mutter Männer nach Hause ein. Ich sah sie nicht als ihre Liebhaber, tue das auch heute noch nicht. Es waren Männer, die meiner Mutter in irgendeiner Weise behilflich gewesen waren – alleinstehende oder ungebundene Männer, die den Schnee aus einer Einfahrt räumten, für die wir keinen Wagen hatten, oder zerbrochene Fenster reparierten; oder Männer, die sie in der Stadt kennengelernt hatte und die Sonntag nachmittag einmal zu uns zum Essen kamen. Aber einmal gab es einen Mann, den meine Mutter, glaube ich, liebte. Er war in ihrer Firma als Abteilungsleiter tätig, und sie war ihm offensichtlich bei der Arbeit nähergekommen, manchmal nämlich pflegte sie ihn mitten in einer Geschichte, die sie mir gerade erzählte, wie beiläufig zu erwähnen, und mir fiel auf, welche Freude es ihr bereitete, von ihm zu sprechen. Er hieß Philip und hatte dunkles Haar und einen Schnurrbart und fuhr einen glänzenden schwarzen Lincoln. Eine Zeitlang kam er regelmäßig jedes Wochenende zum Essen, und danach machten wir alle gemeinsam eine Spazierfahrt in seinem Wagen. Ich saß hinten, meine Mutter saß neben ihm. Von Zeit zu Zeit langte er zu ihr hinüber und drückte ihre Hand, eine Geste, die mir nie entging. Wir gingen immer zum Eisessen, selbst im tiefsten Winter. Wenn wir wieder zurück waren, ging ich entweder in mein Zimmer, um zu spielen, oder nach draußen, um mich mit meinen Freunden zu treffen. Ich war damals acht oder neun. Philip und meine Mutter blieben allein im Wohnzimmer zurück. Einmal, als ich um die Ecke kam, sah ich, wie Philip meine Mutter küßte. Ich hatte den Eindruck, daß seine Hand auf ihrer Brust lag, aber sie rückte so hastig von ihm ab, als sie
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