Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
alleinerziehend und berufstätig, während alle anderen Mütter zu Hause waren. Einen Ehemann hatte sie nie gehabt. Mein Vater, gerade zwanzig, hatte sie an dem Tag verlassen, an dem sie ihm eröffnet hatte, daß sie schwanger war, und hatte sich innerhalb einer Woche zum Militär gemeldet. Ich glaube nicht, daß sie je wieder von ihm gehört hat, und er fiel noch vor meiner Geburt in Frankreich. Den Eltern meines Vaters gehörte eine Kneipe auf der Südseite von Chicago, nicht weit von der Mietskaserne entfernt, in der meine Mutter aufgewachsen war, und nach dem Tod meines Vaters gaben sie ihr Geld, um es ihr zu ermöglichen, sich zunächst einmal ausschließlich um mich zu kümmern. Sie verwendete jedoch das Geld als Anzahlung für einen kleinen weißen Bungalow in einer Vorstadt südlich von Chicago und nahm postwendend ihre Arbeit als Direktionssekretärin eines Büromaterialvertriebs wieder auf. Bis ich zur Schule kam, sorgte tagsüber eine Nachbarin für mich. Meine Mutter war eisern entschlossen, ihre Tochter um keinen Preis im Großstadtdschungel aufwachsen zu lassen.
Jeden Abend punkt zehn nach fünf pflegte ich durch die schmale Straße, in der wir wohnten, zum schmucklosen Holzbau des Bahnhofs an ihrem Ende hinunterzugehen, um meine Mutter abzuholen. In Hut und langem Wollmantel stieg sie vom hohen Trittbrett des zweiten Wagens herunter, im Arm ihre Handtasche und eine Mappe, in der sie stets ihr Mittagbrot ins Büro mitnahm. Mit dem Zug brauchte sie von ihrer Firma in Chicago bis nach Hause genau siebenundvierzig Minuten.
Die Vorstadt, in der wir lebten, kaum als solche zu bezeichnen, bestand aus einer Ansammlung von Vorkriegsbungalows, von denen einer aussah wie der andere, so daß die Straßen ein Bild der Ordnung und Adrettheit boten, wie es das in der Großstadt, der meine Mutter vor so kurzer Zeit erst den Rücken gekehrt hatte, natürlich nicht gab. Wenn wir unseren gemeinsamen Weg durch die von pastellfarbenen Häusern gesäumte Straße antraten, begann für mich die schönste Zeit des Tages, ein Moment jenseits der Zeit, wo ich meine Mutter ganz für mich hatte, und es keine Ablenkung gab. Immer war meine Mutter lebhaft und heiter, hatte mir vielleicht sogar eine Überraschung mitgebracht – ein in Zellophan verpackten Gummiball, einen Streifen Zündplättchen –, und wenn sie müde war oder einen schlechten Tag gehabt hatte, so zeigte sie mir das nicht. Allen Ärger, den sie vielleicht in der Stadt gehabt hatte, behielt sie für sich. Vielleicht aber hatte auch die Bahnfahrt nach Hause zu ihrem Kind alle Nachwehen eventueller Unannehmlichkeiten im Büro vertrieben.
Auf diesem Weg durch unsere Straße – sie pflegte langsam zu gehen, um die Momente unseres Zusammenseins zu verlängern, ich hopste rückwärts vor ihr her oder tanzte um sie herum oder marschierte, wenn sie ernsthaft mit mir sprach, brav an ihrer Seite, die Hände in den Taschen und bemüht, mit ihr Schritt zu halten – fragte sie mich nach der Schule und meinen Freunden oder erzählte mir Geschichten, die von ihren »Abenteuern«, wie sie es nannte, handelten, in denen ich dann die versteckte Moral finden sollte. Sie hatte eine Vorliebe dafür, mir leidenschaftliche Vorträge über diverse grundlegende Lektionen des Lebens zu halten, denen ich zuhörte, als spräche Gott persönlich zu mir. Im Universum, erklärte sie, gäbe es eine Hierarchie, und ich würde erst glücklich werden, wenn ich meinen Platz darin gefunden hätte. Alle möglichen Dinge könnten einem Menschen zustoßen. Man müsse lernen, diese Dinge zu akzeptieren. Man dürfe nicht zu sehr gegen die natürliche Ordnung rebellieren. Der Preis, den man dafür zahlen müsse, sei zu hoch – ein Leben in Schuld oder Einsamkeit. Ich genoß jede Sekunde der zwölf bis vierzehn Minuten unseres allabendlichen gemeinsamen Wegs vom Bahnhof zu unserem Haus, denn ich wußte, wenn meine Mutter erst einmal über die Schwelle getreten war, würden die häuslichen Pflichten sie ganz in Anspruch nehmen. Sie klagte nie, sie wurde nur mit dem Fortschreiten des Abends immer stiller, wie ein altes Grammophon, das allmählich an Schwung verliert. Wenn es Zeit für mich war, zu Bett zu gehen, kam sie in mein Zimmer – eine kleine Kammer, die durch das Bad mit ihrem Schlafzimmer verbunden war – und bürstete mir das Haar, dessen Farbe und Beschaffenheit ich von ihr mitbekommen hatte. Diese Gewohnheit, die getreulichen hundert Bürstenstriche, aus denen manchmal, wenn sie beim
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