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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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erste Ort, an dem er nach mir suchen würde. Und er wußte natürlich auch sofort Bescheid, sobald er die Tür zu der leeren Wohnung öffnete.
    Er rief an. Meine Mutter ging ans Telefon. Ich konnte meine Mutter nicht bitten, nicht hinzugehen. Ihre Stimme war hell und heiter, und sie sagte zu mir: »Es ist Harrold!«
    Ich nahm den Hörer.
    Ich vermute, ich hatte gehofft, wenn er die leere Wohnung sähe, würde er sich etwas Zeit nehmen, um gründlich nachzudenken. Würde vielleicht froh sein um diese Denkpause. Ich hatte gehandelt und ihn aus unserer schrecklichen Verstrickung freigelassen. Vielleicht würde er dankbar sein.
    Sein Ton war eisig, klar in seiner Absicht. Er sagte: »Wenn du nicht sofort zurückkommst, komme ich und hole dich. Wenn du fliehst, werde ich dich finden. Wenn du noch einmal mein Kind entführst, bring ich dich um.« Während er diese Worte sprach, war mein Blick auf meine Mutter gerichtet. Sie sah mich lächelnd an, und nahm Caroline beim Arm, um sie mir winken zu lassen. »Daddy«, sagte sie zu meiner Tochter. »Daddy! Das ist Daddy am Telefon.«
    Ich kann förmlich sehen, wie Sie den Kopf schütteln. Sie können das nicht verstehen, Sie sind verwirrt. Sie halten mich für krank, für genauso verrückt wie er war. Warum bin ich zurückgegangen? Warum habe ich nicht die Polizei eingeschaltet?
    Ja, warum!
    Ich war überzeugt, daß er mich umbringen würde, wenn ich nicht zurückkehrte. Vielleicht konnte ich meiner Mutter nicht die Wahrheit sagen. Vielleicht glaubte ich, ich hätte kein Recht, ihm sein Kind wegzunehmen. Vielleicht auch liebte ich ihn auf meine eigene dunkle Weise immer noch.
    All diese Gründe sind wahr.
    Meine Rückkehr bedeutete die bedingungslose Kapitulation. Ich wurde dafür bestraft, daß ich geflohen war, daß ich ihn in der Woche vor seiner Abreise mit allem mir zur Verfügung stehenden Charme eingewickelt hatte, daß ich ihm sein Kind geraubt hatte. Er strafte mich mit Schlägen, mit Kälte, mit Spott.
    »Schau dich doch mal an«, pflegte er zu sagen.
    Ich ging nur noch selten außer Haus. Ich telefonierte mit meiner Mutter, und alles, was ich sagte, war gelogen.
    Ich habe Ihnen noch gar nichts über die Anstalt erzählt, in der ich bin. Ich denke, das sollte ich nachholen, obwohl es eigentlich nicht viel zu erzählen gibt.
    Als ich hierherkam, wurde ich einer Leibesvisitation unterzogen. Man nahm meine Fingerabdrücke und fotografierte mich.
    Ich habe eine Zellengenossin, aber sie ist sehr ruhig. Sie ist hier, weil sie ihren Onkel erstochen hat, der ihr Zuhälter war. Sie verkauft sich jetzt gegen große Mengen Beruhigungsmittel an interessierte Frauen hier und verschläft den Rest ihrer Strafe. Die Wärterinnen wissen es, aber es stört sie nicht. Eine schlafende Häftlingin ist pflegeleicht.
    Ich genieße also in meiner Zelle eine gewisse Ungestörtheit, aber der Geräuschpegel in diesem Trakt ist ohrenbetäubend. Ich glaube, dieser ewige Krach ist für mich das Schlimmste hier. Sogar nachts wird geredet, gerufen, gelacht, geschrien. Sie lassen hier nachts die Lichter an. Ich habe noch keine Möglichkeit gefunden, mich von dem Lärm und dem Licht abzuschirmen, aber ich merke, daß das Schreiben hilft. Mit dem Schreiben errichte ich eine Wand, die wie ein Puffer wirkt.
    Ich bin hier mit Diebinnen und Drogenabhängigen zusammen, aber vor ihnen habe ich keine Angst. Ich habe Angst vor den Wärterinnen. Sie haben Macht über mich, denn sie bestimmen alles, was ich tue.
    Die Frauen, die auf ihren Prozeß oder das Urteil warten, leben in einem Schwebezustand, in einem Zwischenbereich wie das Fegefeuer oder die Vorhölle. Bei den Mahlzeiten oder draußen im Hof heißt es immer: »Hast du schon was gehört?« Oder: »Weißt du schon das Datum?«
    Im Juni, an ihrem Geburtstag, brachten sie mir Caroline. Sie konnte schon laufen. Ich hatte nicht dabei sein können, als sie ihre ersten Schritte machte. Natürlich war ich stolz und sah ihr mit Wonne zu, wie sie zum Tisch wackelte und mir in die Arme fiel, aber gleichzeitig war mir auch entsetzlich elend. Ich sah, daß sie mich im Grunde nicht kannte.
    Sie brachten uns einen Kuchen, und ich hatte ein Geschenk für sie, eine selbstgemachte kleine Puppe aus Wolle und Flicken. Wir sangen ein Lied für sie, und ich fütterte sie mit dem Kuchen. Alle standen um sie herum und sagten: »Gib deiner Mama einen Kuß, Caroline. Es ist deine Mama, Caroline.« Ich wünschte nur, sie würden alle gehen, aber ich wußte, daß sie nicht gehen

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